Fast so schön wie sein Titel
Von Jochen WernerDass mit Sasha etwas nicht stimmt, stellen die Kinderpsychologen sofort fest, als sie das kleine Mädchen vor einen Fernseher setzen, auf dem Horrorvideos zu sehen sind. Betroffen stellen sie zu Beginn von „Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer“ fest, dass die Kleine sich die Augen zuhält und nach ihrem Vater ruft. Wo das Problem liegt, sei ja offensichtlich: Der Anblick von Gewalt löse bei Sasha Mitleid aus und keinen Hunger. Dabei ist Sasha (Sara Monpetit) doch die Tochter einer Vampirfamilie – und zum Problem wird ihre Abwehr gegenüber dem Töten als vampirischem Initiationsritual spätestens, als das Mädchen zum Teenager herangewachsen ist: Das Blut aus den Plastikbeuteln im familiären Kühlschrank trinkt sie zwar gern und ohne Skrupel, aber sich selbst auf die Jagd begeben und zum eigenen Überleben töten? Niemals!
In dieser Verweigerungshaltung wird Sasha zwar von ihrem gutmütigen Vater Aurélien (Steve Laplante) unterstützt, Mutter Georgette (Sophie Cadieux) hat hingegen hat die Schnauze voll davon, stets das Jagen für die gesamte Kleinfamilie übernehmen zu müssen. Als die familiären Konflikte immer mehr eskalieren und Sasha selbst keinerlei Anstalten macht, sich in ihre vorgesehene raubtierhafte Rolle zu fügen, beschließt man, zu radikaleren Mitteln zu greifen: Von der regelmäßigen elterlichen Blutversorgung abgeschnitten, wird Sasha mitgeteilt, dass sie fortan bei ihrer Cousine Denise (Noémie O’Farrell) leben wird – einer weit grausameren Vampirin, der das Töten spürbar sadistische Freude bereitet. Auch unter Zwang erwachen in Sasha jedoch weder Jagdtrieb noch Mordlust. Aber was tun gegen den Hunger und die fortschreitende körperliche Schwäche? Ein Geistesblitz kommt der feinfühligen Protagonistin, als sie zufällig in eine Selbsthilfegruppe für Depressive und Suizidgefährdete hineingerät…
„Unschuldige“, wenig mordlüsterne Vampire, die nach Alternativen zum Töten suchen oder sich zumindest darauf beschränken, nur die „bösen Jungs“ zu meucheln, hat es in der Kinogeschichte schon einige gegeben – von Brad Pitts Louis in „Interview mit einem Vampir“ über John Landis‘ „Bloody Marie“ bis hin zu den romantischen Vampiren in den „Twilight“-Filmen. Auch die Verknüpfung der Vampirmythologie mit Coming-of-Age-Kinostoffen ist nichts Neues, man denke etwa an Tomas Alfredsons modernen Klassiker „Let the Right One In“. Einen grundlegend neuen, originellen Ansatz also darf man im Kinodebüt der frankokanadischen Regisseurin Ariane Louis-Seize eher nicht suchen. Aber viel Freude daran haben kann man dennoch, denn es gelingt hier, diese kleine, morbide Vampirkomödie mit jeder Menge Charme und Herz aufzuladen.
Das liegt einerseits an der tollen Besetzung, denn nicht nur Hauptdarstellerin Sara Monpetit erfüllt die Rolle der jungen Untoten mit viel, nun ja, Leben. Auch Sashas Familie, die im Umgang mit dem Anderssein ihres Sprösslings das ganze Spektrum zwischen Fürsorge, Überforderung und mitunter grausam erscheinender Strenge abdeckt – und darin so ziemlich jede ganz durchschnittliche Familie aufs Schönste spiegelt, auch wenn eine solche Normalofamilie den unfähigen Clown auf dem Kindergeburtstag wohl nicht gemeinsam verspeisen würde – ist durchweg famos besetzt, sodass auch kleinere Nebenrollen Charakter haben und in Erinnerung bleiben.
Und dann ist da natürlich noch Paul (Félix-Antoine Bénard), jener lebensmüde und allerorten gemobbte junge Mann, den Sasha bei den Anonymen Suizidgefährdeten kennenlernt und der sich als ihr bereitwilliges Opfer anbietet. Beim Versuch, dessen Blut zu trinken, muss Sasha jedoch feststellen, dass sie an Eckzahn-Erektionsstörungen leidet – ihre Fangzähne treten nur dann in voller Pracht hervor, wenn sie um Pauls Leben fürchtet, eine waschechter Zwickmühle. Was also nun tun? Zunächst mal beschließt die immer hungrigere Sasha, dass ihrem designierten Opfer ein letzter Wunsch vor dem freiwilligen Tod zu erfüllen sei – und der besteht darin, sich nach und nach an seinen Peinigern rächen zu wollen.
Dass dieser Prozess hingegen sein Selbstbewusstsein stärkt und seine Lebenslust eher ankurbelt, verkompliziert die Lage weiter. Pauls Hauptmobber Henry (Arnaud Vachon) genügt dann vielleicht als ungeplanter Zwischensnack, aber zur Entwicklung eines nachhaltigen Überlebensmodells muss das ungleiche Mensch-Vampir-Paar dann doch noch einmal kreativ werden – und auch beide Familien müssen letztlich ihren Beitrag leisten, um „Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer“ in Richtung seines unwahrscheinlichen Happy Ends zu bewegen.
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Auf dem Weg zu diesem Ende folgt man dem Film und seinen Protagonist*innen durchweg gern, auch wenn Regisseurin Louis-Seize am Ende weder den Vampirfilm noch das Coming-of-Age-Kino neu erfindet. Aber das muss sie auch nicht, manchmal genügt es ja auch, 90 Minuten lang liebenswerten Figuren durch eine kleine, aber gut und dicht erzählte und mit ein paar charmanten Einfällen gesprenkelte Genregeschichte zu folgen. Das gelingt „Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer“ auf ganzer Linie, sodass neben Sasha und Paul auch das Publikum guter Dinge sein sollte, wenn der Abspann zu laufen beginnt.
Fazit: Eine kleine, liebevolle Vampirkomödie zwischer Goth-Romantik, schwarzem Humor und einfühlsamer Coming-of-Age-Story. „Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer“ erfindet keins seiner Genres komplett neu, überzeugt aber mit Charme, Witz und Warmherzigkeit.
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