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    Evil Does Not Exist
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Evil Does Not Exist

    Weltuntergangs-Sinfonie eines Meisterregisseurs

    Von Janick Nolting

    Ryūsuke Hamaguchi lässt zu Beginn von „Evil Does Not Exist” ein ganzes Universum aus Tönen und Klängen entstehen. Ein Urzustand in der Wildnis wird mit anschwellendem Orchester heraufbeschworen – ähnlich wie in Wagners berühmter „Rheingold”-Ouvertüre. Ohnehin ist dieses Werk zuerst von der Musik her gedacht. „Evil Does Not Exist” entstand aus einer Kooperation zwischen Hamaguchi und der japanischen Komponistin Eiko Ishibashi, die auch schon für den Soundtrack zu seinem Oscar-prämierten Meistwerk „Drive My Car” verantwortlich zeichnet. Hamaguchi sollte Szenen für ihren Live-Auftritt inszenieren. Am Ende sind gleich zwei Filme dabei entstanden: „Evil Does Not Exist” sowie sein Konterpart „Gift”, der dann sogar komplett ohne Dialoge auskommen soll.

    Immer wieder werden in „Evil Does Not Exist” die klagenden, sinfonischen Klangteppiche von Ishibashi eingespielt. Der Film will damit von einem natürlichen Gleichgewicht erzählen, das von Menschenhand aus den Fugen gerät. In den ersten Bildern fährt die Kamera langsam durch den Wald, den Blick in den hellen Himmel gerichtet. Vorbeiziehende Baumwipfel erscheinen als abstrakte Formationen. Plötzlich: Schritte. Der Mensch erscheint in der Wildnis. Das junge Mädchen Hana (Ryo Nishikawa) streift im Schnee umher. Auf die Stille des Waldes folgt der Schock: Eine laute Kettensäge frisst sich durch einen Baumstamm. Hanas Vater Takumi (Hitoshi Omika) bereitet Feuerholz vor. Kein Leben ohne einen Eingriff in die Landschaft. Takumi und die wenigen anderen Bewohner in der Gegend geben sich jedoch alle Mühe, in Einklang mit der Natur zu leben.

    Pandora Film

    Hana (Ryo Nishikawa) hält in der unberührten Landschaft nach freilaufenden Rehen Ausschau.

    Ein gewisser Kitsch und eine Verklärung des vermeintlich ursprünglichen Lebens lassen sich in Hamaguchis Naturbetrachtung kaum leugnen. Das fällt aber insofern kaum ins Gewicht, als es der Regisseur tatsächlich versteht, eine geeignete Form für ein ökologisches Kino und das Leben in der Abgeschiedenheit Japans zu finden. Wenn er Menschen beobachtet, wie sie Wasser aus dem Bach schöpfen, wie sie Federn auflesen, Tierspuren in Schnee und Eis verfolgen oder einfach nur Wege zwischen den Baumstämmen zurücklegen, dann gelingt ihm eine faszinierend fremdartige Zeit- und Raumwahrnehmung.

    Eindrucksvolle Natur-Erfahrung

    Viele der kleinen Vignetten sind in langen Einstellungen gedreht. Die Kamera bewegt sich mit wenigen, bedächtigen Schwenks. Oder sie steht komplett still, scheint sich selbst in verwurzeltes Gewächs zu verwandeln. Einmal läuft Takumi direkt auf sie zu. Wasabi! Die Kamera entpuppt sich als Wildpflanze. Zugegeben: Diese ausgedehnten Szenen können zur Geduldsprobe werden, insofern macht es Hamaguchi seinem Publikum nicht leicht. Aber sie sind essentiell für die Weltwahrnehmung von „Evil Does Not Exist”. Es geht um das Erfahren eines Beinahe-Stillstands, eines Spiels mit Stille und plötzlicher Lautstärke. Mit kunstvoll fließenden, musikalisch untermalten Naturbildern, die dann wieder ganz unvermittelt abreißen und ins Stocken geraten. Sie lehren, eine Lebenswirklichkeit auszuhalten, die regelrecht aus der Zeit gefallen erscheint.

    Es dauert nicht lang, da droht der utopisch gedachten Welt der Untergang: Zwei Mitarbeiter*innen eines Unternehmens namens „Playmode” tauchen in der Gegend auf und offenbaren den Anwohner*innen ihre Pläne. Man will vor Ort eine luxuriöse “Glamping”-Anlage („Glamorous Camping”) errichten. Gestresste Großstädter*innen sollen dort die Entschleunigung im Nirgendwo genießen und Dampf ablassen können. Natürlich erkennen alle schnell: Dieser Bauplan würde ihr Leben radikal verändern. Ihr verheerender Eingriff in die Natur würde Ressourcen und Lebensgrundlagen zerstören. Von den ganzen Sparmaßnahmen und mangelnden Sicherheitsvorkehrungen einmal abgesehen!

    Hamaguchi hat damit einen zeitlosen Film über Raubbau gedreht. Das Talent dieses Filmemachers besteht darin, aus wenigen skizzenhaften Punkten und einem überschaubaren Ensemble eine große Parabel zu stricken. „Evil Does Not Exist” erzählt davon, wie die Natur Kapital wird. Wie sie verkauft, in eine Kulisse und Fantasie verwandelt werden soll. Während die Erwachsenen planen und streiten, vergisst man die nachfolgende Generation. Hamaguchi gedenkt ihrer in einem herzzerreißenden Finale. Die letzten Minuten von „Evil Does Not Exist” sind von einer atmosphärischen Dichte und Wucht geprägt, die ihresgleichen sucht.

    Ist die Öko-Botschaft zu simpel?

    Der Autorenfilmer kann zweifellos beeindruckende, anmutige Bilder inszenieren und er kann in seinen Dialogen beachtliche menschliche Tiefenschichten freilegen. Dennoch handelt es sich bei „Evil Does Not Exist” am Ende eher um ein kleineres Nebenwerk dieses gefeierten Regisseurs. Es mag am prägenden Eindruck liegen, den seine letzten beiden Meisterwerke „Das Glücksrad” und „Drive My Car” hinterließen, aber im direkten Vergleich erscheint die Rahmung seines neuen Dramas doch etwas schlicht gestrickt.

    Trifft sein aufdringliches Naturschutz-Plädoyer überhaupt die richtigen Töne? Oder hängt seine Kritik aktuellen Diskursen nicht etwas hinterher? Es präsentiert sich schließlich reichlich niedrigschwellig. Kaum jemand wird ihm widersprechen, weil es natürlich leicht ist, ein solch albernes Luxusprojekt abzulehnen, das hier verwirklicht werden soll. Spannend werden Diskussionen zum Umweltschutz jedoch erst, wenn es tatsächlich an vermeintlich ganz banale Alltäglichkeiten, an grundlegend systemische Fragen geht! „Evil Does Not Exist” bleibt genau dort nicht hartnäckig genug.

    Hamaguchi ist sowieso immer dann am stärksten, wenn seine Filme nachdenklich und ziellos umherschweifen, anstatt reine Thesen bestätigen zu wollen. Dafür hat sich der Regisseur in der Vergangenheit gern auch mal üppige Laufzeiten von drei, vier, fünf Stunden erlaubt. Ganz unaufgeregt werden da zwischenmenschliche Mechanismen und Fallstricke in der Kommunikation erkundet. Auch in „Evil Does Not Exist” findet man diese Ansätze! Etwa wenn er seinen Antagonist*innen aus der Unternehmenswelt Tokyos einen längeren Dialog im Auto schenkt. Hamaguchi ringt selbst seinen größten Feindbildern noch Verständnis, Grautöne, Verletzlichkeiten ab. Man diskutiert über Heiratspläne, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit nach der Corona-Pandemie.

    Ein Nebenwerk von Hamaguchi

    Daneben geht es erneut um die Schauspiele des täglichen Umgangs. Nachdem „Drive My Car” dezidiert in der Theaterwelt stattfand, sollen hier Strategien gefunden werden, wie man Politik öffentlich inszenieren kann. Das bedeutet auch: Wie man Menschen so manipulieren kann, dass sie den angestrebten Interessen folgen. Nur sind solche Passagen in „Evil Does Not Exist” rar gesät. Sie nehmen sich zu wenig Zeit, bleiben an der Oberfläche. Hamaguchi light, könnte man sagen.

    Zudem greift der Regisseur hin und wieder deutlich in die Klischeekiste: Da sind die wohlhabenden Bürokraten aus der Großstadt selbst zum Holzhacken zu dumm. Man kennt solche Gags. Schlussendlich steuert „Evil Does Not Exist” allein auf seine große Botschaft zu, die wenig Raum für interessante Abschweifungen lässt. Das schmälert ein wenig die Schlagkraft und trübt den überwältigenden Eindruck seines Höhepunkts. Denn wenn man ehrlich ist: Natürlich geht es hier allein um Unausweichliches. Man riecht den Braten nach kurzer Zeit und findet nachher wenig Überraschendes. Stattdessen wartet man allein auf eine Bestätigung. Auf den Tag muss unweigerlich die sinnbildliche Nacht folgen und so wiederholen sich zum Schluss die ersten Bilder der von unten gefilmten Baumwipfel. Dieses Mal hat sich der Himmel verdunkelt.

    Fazit: „Evil Does Not Exist” enthält viele herausragende Szenen und eignet sich dank seiner klar zugespitzten Erzählstruktur perfekt als Einstieg in das Schaffen von Ryūsuke Hamaguchi. An dessen vorherige Meisterwerke kann dieses Naturschutz-Drama aber nicht anknüpfen.

    Wir haben „Evil Does Not Exist“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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