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    Die Ermittlung
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Die Ermittlung

    Die Auschwitz-Prozesse als vierstündiges Kino-Meisterwerk

    Von Jochen Werner

    Als ein „Oratorium in 11 Gesängen“ benannte der große Schriftsteller Peter Weiss 1965 sein monumentales Theaterstück „Die Ermittlung“ – und legte damit einen der bedeutendsten Texte der deutschen Nachkriegsliteratur vor. Zugleich löste er aber auch eine heftig geführte Kontroverse aus. Schließlich hatte der Philosoph Theodor W. Adorno anderthalb Jahrzehnte zuvor im Angesicht der Nazi-Terrorherrschaft das Diktum formuliert, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Nun also sogar ein Oratorium, ein religiöses Singspiel in Versform, über die juristische Aufarbeitung des Vernichtungslagers – verbirgt sich dahinter nicht doch eine moralisch unzulässige Ästhetisierung des monströsesten Menschheitsverbrechens der Weltgeschichte? Dies debattierten Weiss’ Zeitgenossen jedenfalls intensiv und gelangten dabei zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen.

    Tatsächlich entstand „Die Ermittlung“ damals aus einem völlig anders gearteten literarischen Großprojekt. Nichts weniger als eine Neufassung der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri wollte Weiss verfassen, in die er seine theatrale Bearbeitung der Auschwitz-Prozesse, die zwischen 1963 und 1965 in Frankfurt am Main und unter den Augen der Weltöffentlichkeit stattfanden, einordnen wollte. Als Weiss dort allerdings im Auditorium saß, Tag für Tag als Prozessbeobachter, wandelte sich das Projekt – dem Autor wurde klar, dass sich für das Stück, das er zu schreiben gedachte, jedweder mythologische Überbau und jede poetische Überformung verbot.

    LEONINE
    RP Kahl gestaltet das Bühnenbild seiner Verfilmung so radikal reduziert, wie es sich der Peter Weiss 1965 bei der Veröffentlichung des Stückes vorgestellt hat.

    Ein allzu großer Naturalismus in der Darstellung allerdings auch – das von Adorno formulierte Verbot der Ästhetisierung schloss eine Art Bilderverbot ein, da jeder Versuch einer realistischen Rekonstruktion des unfassbaren Grauens nur scheitern konnte. Ein nicht nur ästhetischer, sondern ethischer Grundsatz, der auch in der Kinogeschichte immer wieder zu erbitterten Auseinandersetzungen führte, wenn etwa Jacques Rivette eine spezifische Kamerafahrt in Gillo Pontecorvos Film „Kapò“ als moralisch verachtenswert verurteilte, oder wenn Jean-Luc Godard noch in den Neunzigern in einem Brief an die amerikanische Academy of Motion Picture Arts and Sciences bedauerte, dass er seinen Hollywood-Kollegen Steven Spielberg nicht davon habe abhalten können, für seinen Film „Schindlers Liste“ Auschwitz wieder aufzubauen.

    „Es ist zu beschreiben, denn es hat stattgefunden.“ Diesen Satz schickt Regisseur RP Kahl seiner Verfilmung des Stückes voraus, und greift damit den Ansatz des französischen Soziologen Georges Didi-Huberman auf. Dieser fordert in seinem Buch „Bilder trotz allem“, sich nicht auf einem solchen Bilderverbot und der vermeintlichen Unmöglichkeit einer angemessenen Darstellung des Genozids auszuruhen, sondern im Gegenteil immer wieder neue Wege zu suchen, das Grauen auszusprechen und zu visualisieren. Trotz allem. Indem er Weiss‘ Text in diese Tradition rückt, rückt Kahl dessen Aktualität in den Vordergrund – eine Aktualität wohlgemerkt, die keinerlei oberflächlicher Modernisierungen bedarf. Denn „Die Ermittlung“ kommt in seiner Inszenierung so abstrakt und minimalistisch daher, wie es Weiss vor 60 Jahren in seinem ausführlichen Vorwort zur Druckfassung vorschrieb: Nicht nur das Vernichtungslager selbst sollte auf der Bühne keineswegs nachgebaut werden, auch die Gerichtsräume nicht, in denen die Prozesse geführt wurden.

    Auf das Wesentliche konzentriert

    Auch RP Kahls Verfilmung ist in einem radikal reduzierten Bühnensetting verortet. Eine Black Box mit einigen schmucklosen schwarzen Podesten, ein paar Mikrofone, einfache Tische und Stühle. Die Schauspieler*innen, die die Zeug*innen spielen, treten auf und ab, jene, die die Angeklagten spielen, sitzen zusammen im Hintergrund, oft im Halbdunkel, während die Zeug*innen nacheinander ins Licht treten und, einer nach dem anderen, Zeugnis ablegen. Alles, was dem gesprochenen Wort die Aufmerksamkeit streitig machen könnte, wird also hier aus dem Weg geräumt: Im Zentrum stehen die von Weiss‘ meisterlich verdichteten Dialoge, die er aus den Prozessprotokollen kreiert hat – so schlicht und uneitel, dass sie völlig dokumentarisch erscheinen, und so subtil geformt, dass „Die Ermittlung“ gerade in dieser überaus exakt gebauten Einfachheit gleichwohl zu den ganz großen Sprachkunstwerken der deutschen Literatur zu zählen ist.

    Ebenso wie Weiss weiß allerdings auch RP Kahl ganz genau, dass gerade im Falle einer derart reduzierten Formsprache jedes Wort, jeder Schnitt, jede Kameraeinstellung umso mehr ins Gewicht fällt. Und so ist dann auch „Die Ermittlung“ keineswegs ein formal schlichter Film. Ganz im Gegenteil: das minimalistische Bühnensetting erfordert umso mehr den bewussten und durchdachten Einsatz genuin filmischer Mittel, um dieses Setting auf der Leinwand zum Leben zu erwecken. Das gelingt Kahl auf beeindruckende Weise, indem er die eigentlich statische Situation mal durch gespenstisch gleitende Kamerafahrten und mal durch fast unmerklich erschütterte Einstellungen für das Kino transformiert.

    Dazu tritt eine düster dräuende und so sparsam wie pointiert eingesetzte Filmmusik des Berliner Komponisten Matti Gajek, die nur gelegentlich, dann aber umso wirkungsvoller zum omnipräsenten Raumklang hinzutritt. Der Raumklang wiederum zieht sich wie ein Hintergrundrauschen durch den gesamten Film, macht dabei einerseits das Theatrale des Bühnenraums auch für den Kinoraum hörbar, und erinnert andererseits mitunter geradezu an das „Rauschen der Welt“, das in einigen David-Lynch-Filmen hörbar ist.

    LEONINE
    Die Zeug*innen treten nacheinander ins Licht, sodass ihnen und ihren Worten die ganze Aufmerksamkeit sicher ist.

    Es gibt zwei Schnittfassungen von RP Kahls Peter-Weiss-Adaption, die allen Kinobetreibern, die den Film spielen wollen, zur freien Auswahl angeboten werden. Dieser Kritik liegt die Sichtung der vierstündigen Langfassung zugrunde, es wird aber auch eine auf 187 Minuten gekürzte Fassung zur Verfügung gestellt. Das mag wohl vor allem dem verständlichen Ansinnen geschuldet sein, mittels einer kürzeren Laufzeit ein etwas größeres Publikum zu erreichen und so auch einen gewissen Bildungsauftrag zu erfüllen – denn natürlich ist der Film auch als ein Kommentar zum wieder erstarkenden Faschismus in der gegenwärtigen internationalen wie nationalen politischen Landschaft zu verstehen. Aber ob das diesen hehren Zweck wirklich erfüllt, und ob ein immer noch über dreistündiger Film ein noch zögerndes Publikum eher zum Kinobesuch bewegt als ein vierstündiger?

    Das sei dahingestellt. Nach der Sichtung der Langfassung möchte man jedenfalls auf keine einzige Minute verzichten, und obgleich die Struktur von Stück und Film sicherlich Kürzungen ohne auffällige Auslassungen erlaubt, möchte man auch selbst nicht die Entscheidung treffen müssen, welche Sätze, welche Passagen in diesem zwar wortreichen, aber atemraubend verdichteten Werk verzichtbar sein könnten. Man mag also, Kinobetreiber*innen wie dem Publikum, hier ausdrücklich empfehlen, sich selbst und einander etwas zuzutrauen: Die vier Stunden der Langfassung von „Die Ermittlung“ sind ein intensives und ungemein lohnendes Kinoerlebnis und ein Meilenstein in der Geschichte der oftmals eher schwierigen Form des Theaterfilms.

    Fazit: Ein vierstündiges, dialogintensives Theaterstück über die juristische Aufarbeitung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz, in einem minimalistischen Bühnensetting für die Kinoleinwand inszeniert – das klingt zunächst anstrengend und wahnsinnig unfilmisch, wird aber Dank des umsichtigen und extrem wirkungsvollen Einsatzes sowohl theatraler wie auch dezidiert filmischer Stilmittel zur ungeheuer intensiven Kinoerfahrung. Man kann nur dringend anraten, sich auf diese essenzielle filmische Auseinandersetzung mit den leider auch heute hochaktuellen Themen Faschismus, Genozid und Zivilsationsbruch einzulassen. Wahrscheinlich gibt es, dem Bühnensetting zum Trotz, gerade keinen Film, der unbeirrter an die Kraft des Kinos glaubt.

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