Das norwegische Lehrerzimmer
Von Patrick FeyAls Enkelsohn des Jahrhundertregisseurs Ingmar Bergman und der Schauspielikone Liv Ullman scheint es keineswegs zu hoch angesetzt, dem Norweger Halfdan Ullmann Tøndel zu bescheinigen, dass ihm das Filmemachen quasi in die Wiege gelegt wurde. Nachdem er 2015 mit seinem Kurzfilm „Bird Hearts“ (Gewinner des norwegischen Kurzfilmpreises) erstmals auf nationaler Ebene auf sich aufmerksam machte, legt Tøndel im Alter von 34 Jahren nun mit „Armand“ sein Spielfilmdebüt vor. Die Bühne dafür hätte größer kaum sein können, schließlich wurde der Film zu den 77. Filmfestspielen von Cannes eingeladen. Dort gewann er dann auch gleich den prestigeträchtigen „Camera d’Or“-Award für den besten Debütfilm.
Und tatsächlich dauert es nicht lange, da stellen sich in „Armand“ direkt die ganz großen Fragen, die in ihrer psychologischen Komplexität durchaus an die Filme Bergmans erinnern. Nachdem wir während der Opening Credits in einer Montage durch das weitgehend leergefegte Gebäude einer Grundschule streifen, werden wir in der Eröffnungsszene in die seltsam angespannte Stimmung zwischen einer Schulbeamtin und einer jungen Lehrerin geworfen. Etwas ist passiert oder soll zumindest passiert sein, was die Direktion dazu veranlasst hat, die Eltern zweier sechsjähriger Klassenkameraden an diesem schulfreien Tag zum Rapport zu bestellen. „Welchem Prozedere folge man in einer solchen Situation?“, möchte die junge Lehrerin (Thea Lambrechts Vaulen) wissen? Was ist der Plan? Die beunruhigende Antwort: Für eine solche Angelegenheit gebe es kein Protokoll, keinen Präzedenzfall.
Da betritt auch schon Renate Reinsve den Schauplatz, ihres Zeichens einer der größten Schauspielstars, die das skandinavische Kino in den letzten Jahren hervorgebracht hat. 2021, als sie mit „Der schlimmste Mensch der Welt“ den Durchbruch schaffte und in Cannes mit dem Darstellerinnen-Preis ausgezeichnet wurde, bedeutete dies auch einen Glücksfall für Tøndel. Reinsve rief ihn noch in derselben Nacht an, als ihr bewusst wurde, dass sich mit ihrer plötzlichen Berühmtheit nun womöglich endlich jenes Drehbuch realisieren ließe, das Tøndel ihr schon 2016 zu lesen gegeben hatte. Und das von den Förderern zuvor über die Jahre immer wieder abgelehnt wurde. So wie sich die Produktionsstudios aus kommerziellem Interesse nach den großen Namen strecken, so ist sich auch Tøndel der alles überstrahlenden Präsenz seiner Hauptdarstellerin bewusst. Entsprechend gewichtig inszeniert er ihren ersten Auftritt als Elisabeth, der alleinerziehenden Mutter des sechsjährigen Armand, der durch Gewalt und „sexuelle Deviation“ aufgefallen sei.
Was „Armand“ in diesem ersten Drittel zu einem der fesselndsten Filme des bisherigen Kinojahres macht, ist Tøndels Verständnis dafür, dass noch den moralisch heikelsten Vorfällen immer auch eine morbide Komik innewohnt. Es ist eine Tatsache, die so viele Dramen — im Versuch, auf das tragische Ausmaß ihrer Konflikte hinzuweisen — regelrecht unterschlagen. „Dramen“ bietet hier indes ein gutes Stichwort, mutet Tøndels Drehbuch in seiner Ausgangssituation doch durchaus wie ein Ibsen-Stück an, in der das eigentliche Geschehnis in den Gesprächen zwischen den Erwachsenen fast schon in den Hintergrund rückt. „Lasst uns nicht in die Details gehen“, heißt es da an einer Stelle, als Elisabeth von der Lehrerin — und im Beisein des Elternpaares des angegriffenen Jungen — vom bezichtigten Gewaltverhalten ihres Sohnes Armand unterrichtet wird. Die Absurdität dieser Keine-Details-Forderung bedarf kaum weiterer Ausführung. In ihr drückt sich der Wunsch aus, einen Konflikt aus der Welt zu schaffen, ohne sich mit diesem auseinanderzusetzen.
Angesichts der Schärfe dieser Anklage tut Tøndel gut daran, den Humor der Unbeholfenheit, mit der die Erwachsenen dem Vorfall begegnen, herauszuarbeiten. Das beginnt bereits mit der Einführung Elisabeths, die in einem übergroßen Trenchcoat zur Tür hereinkommt, unter dem, als sie sie ihn später im Verlauf des Gesprächs abstreift, nur ein recht freizügiges Top zum Vorschein kommt. Während sich die Verantwortlichen der Grundschule und die Eltern in der Folge nun darum bemühen, Worte für das zu finden, was passiert sein soll, erweist sich Tøndels Regie und Drehbuch als äußerst fokussiert. Erforscht wird hier zum einen die Unbeholfenheit der Schuldirektion, repräsentiert durch die Klassenlehrerin Sunna, den Schulleiter Jarle (Øystein Røger) und dessen Sekretärin Ajsa (Vera Veljovic), die – ohne Präzedenzfall – auf die eigene Verantwortlichkeit zurückgeworfen wird.
Wie ist, von offizieller Seite, mit Kindern umzugehen, die, ohne hinlängliches Reflexionsvermögen, in präpubertären Aufwallungen ihre Sexualität erkunden? Und wie lässt sich darüber sprechen, wie ermahnen, wie sanktionieren? Die Elternperspektive, die hier, in gänzlicher Abwesenheit der Jungen, wortwörtlich als Vor-Mund in Erscheinung tritt, muss sich damit auseinandersetzen, inwiefern die elterliche Erziehung für die Gewalt der Kinder verantwortlich gemacht werden kann. Und wie man, sowohl aus der vermeintlichen „Opfer“- als auch der „Täter“-Perspektive, der jeweils anderen Seite auf möglichst unvoreingenommene Weise begegnen kann.
Die Wahrheitsfindung rückt bei all diesen Fragen in weite Ferne, wie so oft, wenn sich Urteile hauptsächlich auf die Aussagen der unmittelbar Beteiligten stützen müssen. Die fehlende Klarheit der Geschehnisse, über die die Erwachsenen zu richten haben, drückt sich durchaus auch in den 16-Millimeter-Aufnahmen aus, deren Textur sich so stark abhebt von den scheinbar objektiven digitalen Bildern, wie sie uns jeden Tag in unserem Leben begegnen. In diesem so überaus fesselnden ersten Drittel, dessen sozialer Realismus in seiner Tonalität sowohl die Form eines Ibsen’schen bürgerlichen Trauerspiels als auch die Skurrilität eines Roy-Anderson-Filmes annimmt, arbeitet Tøndel den emotionalen wie intellektuellen Kern seines Filmes klar heraus. All dies gipfelt in einer Szene, in der Elisabeth in einen manischen Lachanfall verfällt. Es ist eine Szene, die dieses Kinojahr überdauern wird.
Gewissermaßen bildet dieser Anfall aber auch einen unbegreiflichen Kipppunkt eines zutiefst disparaten Filmes, der nun all das, was das Vorausgegangene so spannend und herausfordernd machte, über den Haufen wirft. Plötzlich werden alle Charaktere mit Motiven und Fehlern ausgestattet, die durch Backstorys psychologisiert werden. Ja, es ist beinah so, als hätten sich sämtliche Figuren von der einen auf die andere Szene in eine Telenovela verirrt, und als sei es mit der Wahrheitsfindung doch nicht mehr allzu weit her. Es ist ein solch kolossaler Bruch mit der charakterlichen Ambiguität und der stilistischen Originalität des Vorangegangenen, wie man ihn nur selten erlebt. Die eigentlichen Konflikte, so scheint Tøndel zu suggerieren, haben die ganze Zeit im Verborgenen der Erwachsenen geschwelt. Und, wie es das Klischee so will, braucht es am Ende den strömenden Regen als ultimative Katharsis, um sie von ihren Fehltritten reinzuwaschen.
Fazit: Es passiert nicht oft, dass ein Film sich in der ersten Hälfte zu einer intrikaten Charakter- und Gesellschaftsstudie anschickt, nur um in der zweiten Hälfte in unbeholfener Grobschlächtigkeit an die Wand zu fahren. Trotzdem bleibt Halfdan Ullmann Tøndels Debütfilm „Armand“ allein schon aufgrund seines grandiosen Auftakts samt einer der tollsten Szenen seit langem einer der wohl faszinierendsten Filme des Kinojahres 2024.
Wir haben „Armand“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen.