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    Red Rooms - Zeugin des Bösen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Red Rooms - Zeugin des Bösen

    Der wohl heftigste Film des Jahres!

    Von Jochen Werner

    Als „Red Rooms“, so erklärt es uns ein Staatsanwalt zu Beginn des gleichnamigen Films des frankokanadischen Regisseurs Pascal Plante, werden Streaming-Channels im Darkweb bezeichnet, in denen grausame Morde für ein zahlungskräftiges Publikum verübt werden. Drei Mädchen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren sind bereits totgefoltert worden. Der Täter, ein unscheinbarer Vierzigjähriger namens Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos) ist gefasst und muss sich nun vor Gericht für seine Taten verantworten, während ein geschocktes Land den öffentlichen Prozess gebannt verfolgt. Um zu den wenigen Zuschauer*innen zu gehören, die vor Ort im Gerichtssaal zugelassen werden, muss man die Nacht vor dem Gerichtsgebäude auf der Straße schlafen – fast wie bei Konzerttickets von Taylor Swift oder wenn das neue iPhone herauskommt. Kelly-Anne (Juliette Gariépy) campt also allnächtlich und bei jedem Wetter vor dem Gericht, um nur ja keinen Tag des Prozesses zu versäumen. Warum sie diese Strapazen auf sich nimmt, das wissen wir nicht so genau.

    Kelly-Anne verdient ihren Lebensunterhalt tagsüber als Model und in jeder freien Minute bei Online-Pokerspielen mit höchsten Einsätzen. Und das wohl auch sehr gut, davon kündet schon ihr luxuriöses Penthouse-Apartment mit Ausblick über die Dächer von Montréal. Geld, das seien lediglich Zahlen in einem Computer, erklärt sie, und mit Zahlen könne sie eben ganz gut. Und doch: Egal, was sie tut, stets wirkt Kelly-Anne seltsam unbeteiligt, fast schon mechanisch. Wie ein Roboter bewältigt sie ihren Alltag. Fotoshootings, Pokermatches, hier und da ein paar Aktien, alles in Bitcoin, versteht sich. Denn mit Deepweb und Darkweb ist Kelly-Anne vertraut, selbst ihre Alexa, mit der sie in harschem, geradezu aggressivem Tonfall kommuniziert, hat sie datensicher umprogrammiert. In diesen Gesprächen, die ja vielleicht in erster Linie auch Selbstgespräche sind, wird deutlich, dass etwas in Kelly-Anne brodelt und mühsam unter der Oberfläche gehalten wird – eine sichtbare Gefühlsäußerung bricht jedoch zunächst nur ein einziges Mal aus ihr hervor. Eine einsame Träne, auf der Zuschauerbank im Gerichtssaal. Aber wem gilt diese Träne?

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    Kelly-Anne (Juliette Gariépy) ist eine der faszinierendsten Protagonistinnen, die wir jemals in einem Psycho-Thriller erlebt haben.

    Am frühen Morgen vor dem Gerichtsgebäude trifft Kelly-Anne auf Clémentine (Laurie Babin) – eine offensichtlich psychisch labile, deutlich jüngere Frau, die sich vor den omnipräsenten Fernsehkameras selbst als eine Art Groupie des Serienmörders gibt. Stichhaltige Indizien für eine mögliche Unschuld gibt es zwar nicht, alle Beweise deuten auf die Täterschaft des kleinen, schweigenden Mannes hin, der Tag um Tag reglos hinter Glas den Prozess über sich ergehen lässt. Clémentine jedoch ist trotzdem verliebt in das Monster, und die Tatsachen biegt sie sich zurecht, wie sie es benötigt. Ihre unruhige, nervöse Art steht in denkbar großem Kontrast zu Kelly-Annes exzessiver Selbstkontrolle, auch wenn Clémentine in ihr eine Seelenverwandte zu erkennen glaubt. Denn was sonst würde eine erfolgreiche, wohlhabende junge Frau dazu bewegen, wochenlang Tag um Tag den Prozess gegen einen sadistischen Mörder mitzuverfolgen?

    Wenn man jetzt denkt, man wüsste ungefähr, worauf die Gegenüberstellung dieser beiden ungleichen und grandios gespielten Protagonistinnen, die auf unterschiedliche Weise von einem grauenvollen Kriminalfall und einem mutmaßlichen Serienmörder angezogen werden, hinauslaufen könnte, dann sollte man jedwede Erwartungshaltung direkt wieder beiseitelegen und sich auf etwas viel, viel Abgründigeres gefasst machen. Denn obgleich das Thema Snuff-Videos ja beileibe nicht zum ersten Mal auf der Kinoleinwand behandelt wird, geht „Red Rooms“ seinen ganz eigenen Weg, weitab von effektiven, aber letztlich konventionellen Thrillern wie Joel Schumachers „8MM“.

    Ein Film, wie es ihn noch nie gab

    Am ehesten ist „Red Rooms“ noch mit Olivier Assayas‘ „Demonlover“ seelenverwandt – einem abstrakten Businessthriller, dessen Abgründe sich unter kühl durchdesignten Oberflächen auftun. Aber ganz so weit in die Abstraktion entrückt Pascal Plante seinen Film dann doch nicht. Im Gegenteil zieht er eine beträchtliche, aber eben ungemein subtile Spannung aus dem Umstand, dass Kelly-Anne für uns zwar die zentrale Protagonistin darstellt, aus deren Perspektive wir den gesamten Film miterleben – während sie gleichzeitig völlig opak und komplett unlesbar bleibt.

    Man kann sich „Red Rooms“ vielleicht am besten darüber nähern, was er alles nicht ist, obgleich er es an verschiedenen Punkten seiner zweistündigen und keine Minute zu ausufernden Laufzeit anzutäuschen scheint. „Red Rooms“ ist kein prozeduraler Krimi, der allmählich Licht in einen rätselhaften Mordfall bringt. „Red Rooms“ ist kein Hacker-Thriller, auch wenn er bedeutend tiefer (und dem Vernehmen nach wohl auch realistischer) in die Parallel- und Unterwelten des Deepweb eintaucht als vergleichbare Filme. Und „Red Rooms“ ist auch kein Gerichtsfilm, auch wenn er beträchtliche Strecken seiner Laufzeit gemeinsam mit den Protagonistinnen im Gerichtssaal verbringt.

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    Der unscheinbare Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos) soll junge Mädchen für ein zahlendes Publikum zu Tode gefoltert haben.

    In einem neuralgischen Moment jedoch – jenem, in dem der Jury die Videos der Mordtaten vorgeführt werden – bleiben nicht nur wir außen vor, auch Kelly-Anne und Clémentine werden des Saals verwiesen. Einige Geräusche hören sie und wir durch die verschlossenen Türen – und Sanitäter eilen herbei, um einen in Ohnmacht gefallenen Zuschauer zu behandeln. Die Bilder, die in diesem Augenblick vor unserem inneren Auge entstehen, sind schlimmer als alles, was Regisseur Plante uns konkret zeigen könnte.

    Und doch, der Drang zu sehen lässt sich nicht unterdrücken, und so will auch Clémentine die Videos – erst recht, als sie bemerkt, dass Kelly-Anne sehr genau weiß, wo man im Darkweb suchen muss. So sieht sie mehr, als sie je sehen wollte. Wir sehen hingegen fast nichts und hören zu vieles, als die beiden Frauen einen der Snuff-Filme gemeinsam anschauen – ein Kipppunkt für die Erzählung, und der Moment, in dem „Red Rooms“ endgültig unberechenbar wird. Denn zu Ende ist der Film hier noch lange nicht, und das, was folgt, beinhaltet einige der unheimlichsten und alptraumhaftesten Kinobilder seit langem…

    Fazit: An der Oberfläche changiert „Red Rooms – Zeugin des Bösen“ irgendwo zwischen Gerichtsfilm, Snuff-Thriller und Hacker-Film, darunter verbirgt sich aber ein wahrlich alptraumhafter Trip in menschliche Abgründe. Ein unvergesslicher Film, der einen noch lange nach dem Sehen begleiten wird.

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