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    Caligula: The Ultimate Cut
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Caligula: The Ultimate Cut

    Der Skandal geht in die nächste Runde

    Von Sidney Schering

    Das unter Mitwirkung des Erotik-Magazins Penthouse entstandene Historien-Epos „Caligula“ ist einer der massivsten Kinoskandale der Geschichte. In vielen Ländern sorgte der Film für politische Kontroversen und Ärger mit dem Jugendschutz, doch auch hinter den Kulissen ging es hoch her: Schließlich prallten hier gleich drei Dickschädel gegeneinander, während sie sich zugleich hemmungslos über die Tabugrenzen der Siebzigerjahre hinwegsetzten. „Ben-Hur“-Autor Gore Vidal distanzierte sich von seinem eigenen Skript, als ausgerechnet der Arthouse-Provokateur Tinto Brass nicht nur auf dem Regiestuhl Platz nahm, sondern auch das Drehbuch noch einmal selbst überarbeitete.

    Tinto Brass („Salon Kitty“) wiederum distanzierte sich von „Caligula“, weil ihm Produzent und Penthouse-Gründer Bob Guccione zu oft reinredete, ihn von der Postproduktion ausschloss und schließlich sogar eigenständig pornografische Szenen in das eigentliche Filmmaterial hineinschnitt. All dies führte seit der Uraufführung 1979 zu einer verworrenen Historie von „Caligula“-Filmfassungen, da hier nicht bloß wirtschaftliche und künstlerische Interessen konkurrierten, sondern ebenso diverse Jugendschutzmaßnahmen. In der jüngeren Vergangenheit kamen obendrein mehrere parallele Rekonstruktionsversuche hinzu.

    Der Kampf um die "ultimative" Fassung

    Einer davon entstand unter der Leitung des Kunsthistorikers Thomas Negovan. Dieser verzichtet komplett auf die eh erst nachträglich eingefügten Hardcore-Elemente und feierte 2023 beim Filmfestival von Cannes unter dem vollmundigen Titel „Caligula: The Ultimate Cut“ Premiere. Zwar darf bezweifelt werden, dass dies wirklich das letzte Wort in Sachen „Caligula“ bleibt – jedoch ist Negovan und seinem Team eine beeindruckende Restauration einer wahnsinnig-ambitionierten Filmkuriosität gelungen, die tatsächlich auf die große Leinwand gehört.

    Kaiser Tiberius (Peter O'Toole) ist an Syphilis erkrankt. Die Thronfolge bereitet ihm jedoch Kopfschmerzen, da er seinen Enkel und seinen Neffen für ungeeignet hält. Also holt er den Caligula genannten Gaius (Malcolm McDowell) als möglichen Nachfolger zu sich. Kurz darauf wird Tiberius ermordet. Als Herrscher über das römische Reich führt Caligula mit Drusilla (Teresa Ann Savoy), seiner Geliebten und Schwester, ein zunehmend dekadenteres Leben. Er entwickelt eine Abscheu vor den vielen Ja-Sagern um sich herum. Zugleich bereitet es ihm Freude, die Grenzen seiner Macht auf immer perversere Weise auszutesten. Da er seine Schwester nicht heiraten kann, ehelicht er die Priesterin Caesonia (Helen Mirren), die zu Caligula eine ambivalente Beziehung entwickelt. Zugleich vermischen sich in seinem Verstand Hedonismus, Trotzigkeit, Paranoia und Herrschsucht zu einem gefährlichen Cocktail...

    Gaius (Malcolm McDowell) macht nur deshalb mit der Priesterin Caesonia (Helen Mirren) herum, weil nicht einmal er seine eigene Schwester heiraten darf. Tiberius Film
    Gaius (Malcolm McDowell) macht nur deshalb mit der Priesterin Caesonia (Helen Mirren) herum, weil nicht einmal er seine eigene Schwester heiraten darf.

    „Caligula: The Ultimate Cut“ wurde überhaupt erst möglich, weil die verlorengeglaubten Originalnegative wiederentdeckt wurden. Und die Restaurationsarbeit, die Negovan und sein Team leisteten, um das Material aufzupolieren, ist erstaunlich: Kratzer und Verschmutzungen wurden sorgsam entfernt, und die digitalen Tricks, mit denen die Hintergründe aufbereitet wurden, fügen sich nahtlos in die filmische Gesamtästhetik. Eine besondere Herausforderung war die Überarbeitung des Tons: „Caligula“ erschien damals mit ausgiebiger Nachvertonung, der „Ultimate Cut“ hingegen greift vornehmlich auf die Original-Audioaufnahmen von den Dreharbeiten zurück.

    Hier stieß das Team allerdings an seine Grenzen: Einigen besonders brachialen Sequenzen des vor massiven Kulissen gedrehten Films mangelt es arg an der ihnen gebührenden, akustischen Intensität. Ein weiterer immenser Negativpunkt ist die von Troy Sterling Nies neu komponierte Filmmusik: Sie legt sich bleiern über die exzentrischen, herausfordernden Bilder und ist ein deutlicher Rückschritt gegenüber Bruno Nicolais Kompositionen, mit denen „Caligula“ ursprünglich veröffentlicht wurde. Die Entscheidung, nicht ein einziges Frame aus bisherigen Fassungen wiederzuverwenden, sondern ausschließlich auf bislang unveröffentlichte Passagen sowie alternative Einstellungen bekannter Szenen zurückzugreifen, darf ob ihrer bockigen Konsequenz ebenfalls hinterfragt werden.

    Der „Ultimate Cut“ bügelt sprunghafte Charakterentwicklungen und Logiklücken aus, zudem fügt Filmeditor Aaron Shaps die darstellerischen Leistungen deutlich kohärenter zusammen als die Verantwortlichen früherer Fassungen. Trotzdem lässt sich das Gefühl nicht abschütteln, dass manch starker Take schlicht ignoriert wurde, damit man von einer komplett neuen Fassung sprechen kann. Auch Brass' bildkompositorischer Detailblick fehlt im „Ultimate Cut“ mitunter (der Regisseur hat sich inzwischen auch von dieser neuen Fassung distanziert).

    Vor allem der Cast wird sich freuen!

    Eine von der Familie des Regisseurs unterstützte Restauration, verantwortet vom deutschen Filmemacher und Brass-Experten Alexander Tuschinski, wurde bereits 2018 angekündigt. In dieser soll versucht werden, Brass‘ damalige Vision zu rekonstruieren. Allerdings lässt sie seither auf sich warten. Negovan und sein Team verfolgten hingegen nach eigenen Angaben die Absicht, sich den Vorstellungen des Drehbuchautors Vidal anzunähern. Mehr als eine Annäherung wäre aufgrund der nachträglichen Änderungen am Skript sowie des holprigen Verlaufs der Dreharbeiten aber wohl auch eh unmöglich. Was der „Ultimate Cut“ dagegen vollbringt: Er gibt dem zentralen Cast durch die kohärentere Auswahl an Takes, die Rekonstruktion zuvor nur angerissener Subplots sowie eine konventionellere Dramaturgie mehr Raum zur Entfaltung.

    So macht etwa die spätere Oscargewinnerin Helen Mirren eine deutlich bessere Figur, da einige Szenen neu dazukommen, in denen Caesonia mit der Wahl zwischen Intrige und Treue hadert. Am meisten gewinnt aber Hauptdarsteller Malcolm McDowell dazu, da der „Ultimate Cut“ eine brillante, mehrdimensionale Performance zu Tage fördert: In dieser „Caligula“-Fassung werden sowohl der Wahnsinn als auch die Tragik des Protagonisten viel stärker herausgearbeitet. McDowell gelingt es, Gaius mit seinen erbarmungslosen, tyrannischen und pervertierten Zügen eine faszinierende Ambivalenz einzuhauchen: Der Kaiser ist von seinen Neidern eingeschüchtert sowie von seiner eigenen ultimativen Macht irritiert und geradewegs schockiert.

    Bei den ganzen Verrissen und Skandalen vergisst man leicht, dass „Caligula“ eine tatsächlich epische Produktion mit opulenten Kulissen war. Tiberius Film
    Bei den ganzen Verrissen und Skandalen vergisst man leicht, dass „Caligula“ eine tatsächlich epische Produktion mit opulenten Kulissen war.

    In den spannendsten Sequenzen wirft McDowell gekonnt und provokant die Frage auf, ob Gaius tatsächlich aus Herrschsucht wahnsinnig geworden ist oder ob sein Intellekt durch den Mangel an Herausforderung nicht eher auf tragische Weise zerfällt? Womöglich ist er sogar klar bei Verstand und versucht nun bockig, Leute dazu zu bringen, ihn und seinen Status infrage zu stellen? Einzelne Dialogpassagen in der zweiten Filmhälfte wirken dieser Ambivalenz allerdings auch wieder dezent entgegen, zudem mäandert der Erzählfluss: Selbst wenn sich die Ereignisse überschlagen, fransen manche, entscheidende Sequenzen aus – und auch vereinzelte neu eingefügte Szenen sind eher Ballast als Bereicherung.

    Dennoch ging es in keiner anderen „Caligula“-Fassung bislang so sehr darum, besonnen davon zu erzählen, wie irre Macht einen machen kann, statt nur darum, den Wahnsinn der Mächtigen einfach nur ungefiltert abzubilden. Die Suche nach der perfekten „Caligula“-Version wird sicherlich weitergehen – doch jetzt wurde immerhin die dramatischste, kohärenteste und zugleich leider überdehnteste Version gefunden.

    Fazit: Der legendäre Skandalfilm „Caligula“ ist jetzt nicht unbedingt „ultimativ“, aber zumindest kohärent – und er hat in der neuen Fassung einen völlig neuen Sinn: Aus einem dekadent-perversen Historien-Epos voller Opulenz wurde ein opulentes Filmepos über Dekadenz und Perversionen.

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