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    Cranko
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Cranko

    Der getriebene Vater des Stuttgarter Ballettwunders

    Von Gaby Sikorski

    Wer sich fürs Ballett interessiert, kennt mit großer Wahrscheinlichkeit den Namen John Cranko. In seiner kurzen Karriere hat der Choreograf die gesamte Ballettszene beeinflusst und umgekrempelt. Seine Entdeckungen – allen voran die Primaballerina Marcia Haydée – haben nach seinem viel zu frühen Tod sein Lebenswerk fortgesetzt. Crankos Choreografien werden bis heute getanzt, und das Stuttgarter Ballett, das ihm seine Existenz und seinen Weltruhm verdankt, hält bis heute seinen Namen in Ehren. Anlässlich des 50. Todestages von John Cranko feierten ihn die Stuttgarter in einer Ballett-Gala mit Ausschnitten aus seinen Werken, die in nicht einmal zwölf Jahren entstanden und mit denen er Ballettgeschichte schrieb. Umso verwunderlicher, dass mit „Cranko“ von „Führer und Verführer“-Regisseur Joachim A. Lang erst jetzt ein Film über ihn ins Kino kommt – ein Biopic über einen Künstler, der besessen war von seiner Arbeit.

    1961 kommt der Ballettchoreograf John Cranko (Sam Riley) nach Deutschland. Hinter ihm liegt eine kurze Zeit der Triumphe, seine Arbeiten wurden in London begeistert aufgenommen. Doch auf den steilen Aufstieg folgte ein ebenso steiler Niedergang: Wegen seiner Homosexualität wird er in England verfolgt und mit Berufsverbot bedroht. In Stuttgart hingegen nimmt man ihn mit offenen Armen auf. Schon die erste Inszenierung wird ein rauschender Erfolg, und Cranko avanciert zum fest angestellten Ballettdirektor. Seine Handlungsballette machen Furore, er umgibt sich mit einer Schar von Tänzerinnen und Tänzern, mit denen er von der kleinen deutschen Provinztruppe zum „Stuttgarter Ballettwunder“ aufsteigt. Gastspiele an der Metropolitan Opera in New York machen ihn weltweit bekannt. Doch der leidenschaftliche Künstler, der besessen arbeitet und mit seiner Begeisterung alle anderen mitzieht, hat auch dunkle Seiten, die sein Leben immer stärker beeinflussen: Seine Depressionen machen sich immer häufiger bemerkbar, auch durch viele unglückliche Liebesbeziehungen. Nur mit reichlich Alkohol und Medikamenten kommt er über die Runden…

    Port au Prince Pictures
    John Cranko (Sam Riley) ohne Zigarette wäre wie Kojak ohne Lolli.

    Joachim A. Lang hat „Cranko“ nicht nur inszeniert, sondern auch das Drehbuch zum Film geschrieben, das auf ausführlichen Recherchen beruht. Die nicht allzu ehrfurchtsvolle Würdigung von John Cranko als Künstler ist dabei durchaus gelungen. Trotzdem wirkt es oft so, als ob Lang unbedingt die Wurzeln von Crankos Schaffen freilegen und ihm so auch noch das letzte Geheimnis entreißen und wegerklären will. Doch wie lässt sich Kreativität in Bildern darstellen, ohne dass sie kitschig oder albern wirken? Lang versucht das mit Einstellungen in Crankos Augen: In seiner Iris spiegeln sich Tanzfiguren, bewegen sich die Tanzenden und nehmen die Inszenierungen quasi vorweg. Das ist handwerklich gut gemacht, wirkt aber in der Wiederholung manchmal eher prätentiös als erhellend.

    Die Atmosphäre der 60er und 70er Jahre ist ganz gut getroffen – ein wenig unglaubwürdig wirken hier nur die Szenen, in denen es so scheint, als sei Stuttgart eine extrem tolerante Stadt gewesen, was den Umgang mit Kunst, Künstlern und Homosexualität betrifft. Hintergrundbilder aus einer Stuttgarter Schwulenbar verbreiten da eine plüschig knuffige Atmosphäre, die beinahe vergessen lässt, dass auch in Deutschland zumindest bis in die 1970er Jahre Homosexuelle verfolgt wurden und der § 175 erst seit 1994 abgeschafft ist. Deutlich besser gelungen sind da die Ensembleszenen, in denen Cranko sein Team anfeuert – wie ein Fußballtrainer in der Kabine. Dann sieht es gelegentlich so aus, als ob Cranko ein bisschen glücklich ist.

    Rastlose Suche nach ein klein wenig Glück

    Insgesamt beschäftigt sich Lang sehr intensiv mit Crankos Persönlichkeit, mit seinem Wunsch nach Perfektion und seinem unbedingten Willen, geliebt zu werden. „Ich bin auf der Suche nach einer Familie“, sagt Cranko zum Taxifahrer, als er vom Stuttgarter Flughafen in die Stadt fährt, um sich am Theater vorzustellen. Mit diesen Bildern beginnt der Film: ein gutaussehender Mann in einem auffälligen Outfit – ein Anzug mit großformatigem Muster, die unvermeidliche Zigarette im Mundwinkel. Sam Riley spricht selbst seine deutschen Texte, das macht er gut, und er gibt Cranko von Anfang an eine nervöse Attitüde. Crankos Unruhe steigert sich mit der Zeit zur Rastlosigkeit. Wenn er an seinen innovativen Choreografien arbeitet, dann ist er angespannt, ein bisschen wie eine Katze auf der Lauer, die dann unvermittelt losspringt.

    Crankos cholerisches Temperament macht nicht nur ihm, sondern auch seiner Umgebung zu schaffen. Und das gilt auch für sein Privatleben. Am Theater oder in dessen Umfeld findet er seine Liebhaber und Affären, doch auch mit ihnen gibt es keine Entspannung. Lang zeigt Crankos Affären meistens, wenn sie gescheitert sind, als unglückliche Erfahrungen eines Mannes, der vielleicht gar nicht glücklich sein kann. „Der Glauben an die eigene Arbeit hat Ähnlichkeit mit dem Glauben an Gott.“ Aber wenn Cranko das sagt, dann hat das einen sehr handfesten Grund, der nichts mit Religion, sondern mit purem Überlebenswillen zu tun hat. Cranko hat nichts anderes als seine Arbeit. Aus ihr zieht er die Kraft, sie lenkt ihn von der großen Angst ab, die sich hinter seinen Depressionen versteckt wie eine Giftschlange im hohen Gras – allgegenwärtig und immer bereit zuzuschlagen, sobald das Opfer sich eine Blöße gibt.

    Port au Prince Pictures
    Für Cranko gibt es sowas wie Glück nur im Tanz, und selbst dort immer nur kurz.

    Gegen die Ängste, Abgründe und Dämonen, die in seiner Seele zu Hause sind, hat Cranko nur ein Mittel: den Tanz. Er glaubt an die Tanzkunst als einzige Möglichkeit, in Bewegungen auszudrücken, was in Worten nicht gesagt werden kann. Im Zusammenspiel von Musik und Körper wird bei ihm „Fleisch zu Geist“. Und in den Tanzszenen zeigt sich am ehesten die Qualität des Films. Die Kamera von Philip Sichler ist mittendrin. Sie umkreist, sie verfolgt die Tanzenden und schafft dabei eine fesselnde Atmosphäre von manchmal geradezu immersiver Wirkung. Die Mitglieder des aktuellen Stuttgarter Corps de Ballet spielen dabei ihre Vorgängerinnen und Vorgänger, und sie machen es gut: Elisa Badenes hat dabei die wichtigste Aufgabe. Sie ist auf und neben der Bühne eine ausdrucksvolle Marcia Haydée – äußerlich graziös und innerlich beherzt.

    Bei Joachim A. Lang ist Cranko auf der Suche nach der absoluten Schönheit, die irgendwo jenseits des visuell Fassbaren liegt. Wenn er in seinen Choreografien immer wieder die großen Themen des Lebens – Geburt, Liebe, Leiden, Tod – thematisiert, dann steckt dahinter das Verlangen nach Vollkommenheit, aber auch der Wunsch nach Harmonie für sich selbst. Als Symbol für die enge Verbindung zwischen Cranko und dem Tanz nutzt Lang verschiedene Stilmittel: Da gibt es Visionen von Tanzszenen in seinem Alltag, in denen Cranko versucht, sein Unglück zu verarbeiten. Und da sind immer wieder die Blicke in seine Augen, in denen sich Tanzende spiegeln: als Verbindung zwischen Körper und Geist, zwischen Leben und Sterben.

    Fazit: Besonders in den Tanzszenen entwickelt sich hier das Verständnis für den großen Choreografen John Cranko, der auch aufgrund seines frühen Todes zur Legende wurde. Das Zeitkolorit ist nicht immer ganz stimmig, aber insgesamt ist die Persönlichkeit von John Cranko nachvollziehbar gestaltet, was vor allem Sam Rileys facettenreicher Darstellung eines hypersensiblen, hypernervösen Künstlers zu verdanken ist. Die visuellen Versuche, John Crankos Liebe zum Tanz und seinen Schaffensdrang (oder Schaffenszwang) zu entschlüsseln, wirken manchmal überflüssig – an den Versuchen, Kreativität zu erklären, sind ganze Generationen von Wissenschaftler*innen gescheitert. Vielleicht trifft der Wirt aus John Crankos Stuttgarter Stammkneipe am ehesten den Kern, wenn er sagt: „Wir sind Griechen. Wenn alles so richtig beschissen ist, dann tanzen wir.“

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