Der Horror am Rande Europas
Von Janick NoltingDer Welt entweicht die Farbe. Nur wenige Sekunden darf der Wald grün schimmern, auf den „The Green Border“ anfangs blickt. Dann kippt das Bild ins Schwarz-Weiße und die Farbe wird bis zum Schluss nicht wiederkehren. Agnieszka Holland hat sich in ihrer langjährigen Karriere schon mit so manchem Verbrechen, so mancher historischen Katastrophe auseinandergesetzt, darunter dem Holocaust in „Hitlerjunge Salomon” oder dem Holodomor in „Red Secrets”. Im Alter von 74 Jahren bringt sie nun ein Werk heraus, das in der jüngeren Gegenwart verankert ist. „The Green Border” setzt 2021 ein und wirft einen verstörenden Blick auf die humanitäre Katastrophe an der europäischen Außengrenze.
Bei dem eingangs erwähnten Wald handelt es sich um das Gebiet zwischen Belarus und Polen. Nachdem das System des belarussischen Präsidenten Lukaschenko Geflüchtete an die Grenzen nach Polen gelockt hat, um sie als Waffe gegen die EU einzusetzen, herrschen vor Ort grauenerregende Zustände. Zahlreiche Menschen nehmen die beschwerliche Reise auf sich, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen. Doch weder Polen noch Belarus wollen die Geflüchteten aufnehmen oder passieren lassen. Geopolitische Konflikte werden auf den Köpfen wehrloser Menschen ausgetragen. Die Möglichkeit einer sicheren Durchreise entpuppt sich als grausame Lüge.
„The Green Border“ zeigt das Leid der Flüchtenden in all seiner grausamen Konsequenz – und schockiert so oft noch mehr als ein Horrorfilm.
Die Entsättigung der Bilder ist die letzte Möglichkeit einer Distanzierung, die Agnieszka Holland ihrem Publikum noch lässt. Demütigungen, brutale Gewalt, mit der Menschen durch Stacheldrähte gejagt oder über die Grenze geworfen werden, zeigt die polnische Regisseurin in entsetzlichen Ausmaßen. Die vermeintlichen Ordnungshüter erlauben sich sadistische „Späße”. Man zieht Geflüchteten das Geld aus der Tasche, um sie hinterher doch elendig verenden zu lassen. Mit physischer Gewalt lässt man den niedersten Instinkten freien Lauf. Einmal bekommt ein Mann Wasser zu trinken, das mit Glasscherben vermengt wurde - mit solchen Eindrücken arbeitet Hollands Fluchtdrama.
Die Landschaft wird in „The Green Border” zur Todesfalle. Weder hier noch dort ankommen zu können, in einer gesetzlosen Übergangszone verweilen zu müssen, das entzieht sich jedem Verständnis eines zivilisatorischen Raums. Auch deshalb passt das Schwarz-Weiß: Teilweise lässt es Figuren wie Gespenster in einer Zwischenwelt erscheinen. Der Mensch verliert seine Persönlichkeit und damit auch Rechte und Würde. Er erliegt vollständig der Gewalt der Mächtigen. Untereinander betreibt man Tauschhandel mit dem letzten Hab und Gut. Powerbank gegen Apfel. Menschen werden als politische Waffe und Übel angesehen, das man nur noch als Objekt behandelt. „The Green Border” zeigt, wie man die Grenzschutzbeamten mit dieser Ideologie füttert. Kunst braucht es, um solche Grausamkeit zu kontern.
Agnieszka Holland ist eine Regisseurin, die mit großer Eindringlichkeit solche menschlichen Vergehen verfilmen kann und nah bei ihren Figuren bleibt. Wenn sie den Schrecken in den Wäldern zeigt, dann erlangt das teilweise einen dokumentarischen Charakter. Fehlende Haltung oder fehlende Erwartungen an das Kino kann man der Regisseurin schließlich kaum vorwerfen. „The Green Border” ist mit Wut und aktivistischem Eifer inszeniert. Holland nutzt den Film, um Empathie zu wecken und das Bewusstsein für Verbrechen zu schärfen. Damit sich an unerträglichen Zuständen etwas ändern kann, muss zuerst etwas erfahren, eine Emotion provoziert werden - so scheint „The Green Border” auf die Welt zu schauen.
Nur: Lässt sich von den systemischen Verbrechen in solcher Weise erzählen, ohne das Leid gleichzeitig als Sensation auszuschlachten? Was bietet der Film darüber hinaus? Agnieszka Holland versucht durchaus, Brüche in das Szenario einzubauen. Sie spaltet dafür die Erzählperspektiven in einzelne Kapitel auf. So wagt sie sich nicht nur aus Sicht einer geflohenen Familie in das Grenzgebiet, sondern etwa auch aus der einer Aktivistin (Maja Ostaszewska) und eines Beamten (Tomasz Włosok). Holland testet damit, wie sich der Mensch im Angesicht des Extremen verhält, ob er Gerechtigkeit walten lässt, Obrigkeitsgehorsam und Opportunismus an den Tag legt, ob sich da überhaupt etwas regt.
In einer der interessantesten Szenen wird das Spannungsverhältnis von Anpassung, Füße-Stillhalten und Tatendrang verhandelt. Dennoch schlingert „The Green Border” erstaunlich unpolemisch und unkonzentriert durch seine Klage. Ja, da wird hin und wieder gegen Politiker geschossen und die Bilder aus dem Wald sprechen für sich. Einmal sitzt die geflüchtete Familie zerlumpt und ausgehungert unter der Europaflagge an einer dreckigen Wand. Ein bitteres Bild! Aber wen will man hier eigentlich zur Verantwortung ziehen? Mit welchen inszenatorischen Strategien will man welche Personen und Instanzen erreichen?
In dieser Hinsicht denkt „The Green Border” einfach nicht weit genug. Er tröstet mit ein paar Szenen von erwachter Zivilcourage, sucht nach Anklängen eines Happyends für wenige Figuren. Schock und Rührseligkeit liegen eng beieinander. Hollands Film tut so, als würde er Dinge offenbaren, die der Welt gänzlich fremd wären. Dabei visualisiert er nur das, was in zahlreichen Quellen ohnehin schon medial kursiert. „The Green Border” strickt daraus eine Schocktherapie, die schnell eine erdrückende Totalität entwickelt.
Letztlich handelt es sich um ein Werk, dem man gern Preise verleiht, das man als „wichtigen Film” betiteln kann und dessen Sichtweise jede*r zustimmen wird. Zugleich versperrt es sich einem kritischen Reflektieren im Zusehen, weil es seine inszenatorische Herangehensweise so drastisch auf den geteilten Affekt verengt. Man rezipiert dieses Werk trotz aller Perspektivwechsel zuvorderst als Horrorfilm. Man weiß eigentlich alles, was gerade in der Welt passiert. Nun setzt man sich einmal für zweieinhalb Stunden diesen Bildern aus, beruhigt sein Gewissen im erlebten Entsetzen darüber.
Holland findet leider keine Abstraktion, keine größere formale Ebene für diese Erfahrung. Alles strebt allein nach engstirniger Authentizität. Wenn im Wahrnehmungsakt an sich jedoch keine echte Provokation, keine Irritation oder Verfremdung mehr stattfindet, sondern nur noch bloße Abbildung und Reproduktion, dann nützt das größte erweckte Mitleid wenig. Es verkommt zum reinen Kalkül und ist hinterher umso leichter beiseite gewischt. Erst im Epilog, der zeitlich noch näher an die Gegenwart heranrückt, gelingt Holland eine solche Irritation. Sie kontrastiert das zuvor Gezeigte mit einer konsequent aktualisierten Ebene, die all die Menschenfeindlichkeit der politischen Handlungen noch einmal aus neuer Sicht ins Bewusstsein rückt. Es geschieht ausgerechnet in einem Moment einer Rettung.
Fazit: Agnieszka Holland erweist sich auch mit ihrem neuen Drama als bedeutsame politische Gegenwartsregisseurin. „The Green Border” fehlt jedoch eine konsequentere Abstraktion und reproduziert überwiegend nur Horrorbilder, um die größtmöglichen Gefühle zu wecken.
Wir haben „The Green Border“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.