Das chaotischste Dyke-Duo seit "Bottoms"
Von Joana MüllerGut 35 Jahre haben Joel Coen und Ethan Coen zusammen Filme gemacht und damit die Herzen zahlloser Kinofans erobert. Nach dem gemeinsamen Schreiben der Drehbücher nahm dann zunächst Joel auf dem Regiestuhl Platz, während Ethan offiziell als Produzent fungierte – aber natürlich war die Arbeit der Brüder an Klassikern wie „Fargo” oder „The Big Lebowski” trotzdem untrennbar miteinander verwoben. Deshalb war es auch kein Wunder, dass die Coens 2004 bei „Ladykillers“ erstmals gemeinsam als Co-Regisseure auftraten. Doch dann 2017 der Schock: Nach „The Ballad Of Buster Scruggs” wollten die Brüder erstmals getrennte Wege gehen! Ethan hatte schlicht keine Lust auf die von Joel geplante, vor allem wegen ihrer überraschenden Vorlagentreue aus dem sonstigen Coen-Oeuvres herausstechende Shakespeare-Adaption „Macbeth”.
Nun also erfahren wir, was sich Ethan Coen stattdessen vorgestellt hat – und sein Solo-Erstlingswerk „Drive-Away Dolls“ knüpft zumindest auf den ersten Blick an das bisherige Schaffen der Brüder an: Immerhin handelt es sich um eine Heist-Komödie voller skurriler Einfälle. Aber wo sich in Filmen wie „Burn After Reading“ oder „Blood Simple“ sonst regelmäßig trottelige weiße Männer mittleren Alters in vollkommen abstruse Geschichten verstrickten, stehen hier zwei Twentysomethings im Zentrum, die so kompromisslos queer und rallig sind, wie wir es zuletzt in Emma Seligmans „Bottoms” gesehen haben.
Die draufgängerische Jamie (Margaret Qualley) wurde gerade von ihrer Freundin Sukie (Beanie Feldstein) aus der gemeinsamen Wohnung geworfen und sucht Unterschlupf bei ihrer guten Freundin Marian (Geraldine Viswanathan). Gelangweilt von ihrem Bürojob und den ständigen Avancen ihrer männlichen Kollegen, beschließt Marian, einen Roadtrip zu ihrer Tante nach Florida zu unternehmen – und Jamie kommt kurzerhand mit.
Die Freundinnen mieten sich einen Leihwagen und sehen den Trip als Abenteuer, bei dem es auch jede Menge sexuelle Action geben soll – denn für Marian ist das letzte Mal bereits eine ganze Weile her. Als sie einen mysteriösen Koffer im Kofferraum finden, ist jedoch jäh Schluss mit Entspannung. Stattdessen beginnt ein gnadenloser Wettlauf, bei dem sich die Frauen noch einmal von einer ganz neuen Seite kennenlernen. Denn der zwielichtige Chief (Colman Domingo) will seinen Koffer zurück – und ist ihnen mit seinen Handlangern bereits dicht auf den Fersen...
Schon die Anfangssequenz von „Drive-Away Dolls“ macht klar, in welche Richtung es gehen soll: Wenn ein skurril-bebrillter Pedro Pascal („The Last Of Us“) von seinem Peiniger in eine dunkle Seitenstraße getrieben wird, dann erinnern die verkanteten Kameraeinstellungen ebenso an ein Horror-B-Movie aus den Achtzigern wie der spooky anmutende Soundtrack von Coen-Stammkomponist Carter Burwell („Carol“). Aber während hier noch alles für ein verrücktes Krimi-Spektakel in der üblichen Coen-Tradition spricht, könnte man bereits nach der nächsten Szene glauben, man wäre womöglich im falschen Film gelandet:
Da haben zwei junge Frauen grafischen Sex miteinander – während sie von Beanie Feldstein („Booksmart“) am Telefon zugequatscht werden. Frauen als Protagonistinnen in einem Coen-Film – und dazu noch in diesem Alter? Das gab es zumindest in dieser Kombination noch nie – zumal Ethan Coen in seiner Action-Komödie mehr als einmal Coming-of-Age-Elemente einfließen lässt, wenn er von der romantischen und sexuellen Entwicklung der beiden Hauptfiguren Jamie und Marian erzählt, die in ihren Zwanzigern nicht nur ein brutales Abenteuer, sondern auch eine Art Selbstfindungstrip erleben.
Das zentrale Duo ist dabei so gegensätzlich, wie es sich für Odd Couples im Kino nun mal gehört: Jamie als wahrgewordener Gen-Z-Shane-McCutcheon-Fiebertraum, die trotz oder gerade wegen ihres trotteligen texanischen Akzents alles flachlegt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist – und ihre Kumpanin Marian, die zugeknöpft und reserviert ihre Abende mit Romanen von Henry James im Bett verbringt. Was die beiden bei ihrem Roadtrip voneinander lernen können, sollte klar sein – und so entspinnt sich eine sexuelle Reifeprüfung durch Lesbenbars im mittleren Westen und Pyjama-Partys im Keller der lokalen Frauenfußballmannschaft.
Ihre Queerness ist dabei so erfrischend normal und horny, wie wir es selten zuvor im Kino gesehen haben. Da denkt man unweigerlich an Filme wie „Booksmart” oder „Bottoms” – wobei hier auf vielen Ebenen nochmal eine Schippe draufgesetzt wird. Maßgeblich ist dabei auch der Einfluss von Ethan Coens Lebensgefährtin Tricia Cooke zu spüren, die nicht nur wie bei zahlreichen Coen-Filmen zuvor den Schnitt übernommen, sondern diesmal auch am Drehbuch mitgeschrieben hat. Dass die Lovestory am Ende nicht ganz glaubwürdig daherkommt, ist dann auch fast egal – schließlich ist „Drive-Away Dolls” am Ende in etwa so ernstgemeint wie „The Big Lebowski” oder „Hail, Caesar!”.
Unter den Nebenfiguren finden sich dann allerdings doch wieder etliche Vertreter der typischen Coen-Riege – vom irrwitzig-trockenen Leihautovertreiber Curlie (Bill Camp) bis hin zu den beiden Handlangern Arliss (Joey Slotnick) und Flint (C.J. Wilson) alias The Goons, die als Gangster der alten Schule zunehmend Schwierigkeiten haben, sich in der modernen Welt der jungen Frauen zu behaupten. Wenn nach unzähligen Match-Cuts, psychedelischen Traumsequenzen sowie Gastauftritten von Miley Cyrus und Matt Damon offenbart wird, was sich wirklich in dem mysteriösen Koffer verbirgt, fliegt auch noch der letzte Funke Seriosität aus dem Fenster.
Ob der MacGuffin, der an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden soll, jedoch in einer Story um selbstbetitelte Dykes angebracht ist oder hier nicht doch wieder altbackene männliche Fantasien über lesbischen Sex zum Vorschein kommen, ist sicherlich diskutierbar – auch wenn kaum geleugnet werden kann, dass das Humorlevel damit grandios-bescheuert auf die Spitze getrieben wird.
Die Arbeit von „The Power Of The Dog”-Kamerafrau Ari Wegner weiß dabei auch in grafischen Szenen nicht zu fetischisieren, womit „Drive-Away Dolls” auch über die skurril-spaßige Action-Komödie hinaus einen gelungenen Beitrag zum Queer Cinema leistet. Da bleibt nur zu hoffen, dass „Drive-Away Dolls” tatsächlich, wie von Ethan Coen angekündigt, den Startschuss zu einer geplanten B-Movie-Trilogie um das chaotische Dyke-Duo gegeben hat. Denn Lust darauf, mehr abstruse Abenteuer mit Jamie und Marian zu sehen, macht der Streifen allemal.
Fazit: Der wahrgewordene Fiebertraum eines queeren Teens – das hätte man gerade von einem Coen-Film, wo sonst meist die weiße Männerriege des amerikanischen Hinterlands verhandelt wird, nun wahrlich nicht erwartet. Aber in einer Sache bleibt sich Ethan Coen doch treu: In seiner Heist-Komödie geht auch diesmal schief, was nur schiefgehen kann – und selbst wenn dabei nicht alle Pointen zünden, bietet „Drive-Away Dolls“ abermals ein verrückt-skurriles Roadmovie-Abenteuer, das nicht nur Coen-Fans einen Heidenspaß bereiten dürfte.