So wahnsinnig unterhaltsam sind Krimis selten.
Von Kamil Moll„Selbst im Suff sind Gelüste real“, sagt ein Polizist zu Jérémie (Félix Kysyl) bei der Vernehmung, als dieser Ungereimtheiten in seiner Aussage mit einigen Gläsern unverdünntem Pastis erklären möchte. Vincent (Jean-Baptiste Durand) ist über Nacht verschwunden, sein Auto in einer weit entfernten Kleinstadt gefunden worden. Jérémie verstrickt sich bei den Details in Widersprüche. Mal fuhren die beiden in ein hitziges Gespräch verwickelt die ganze Nacht zusammen herum, mal trennten sie sich nach einem heftigen, kurzen Streit und Jérémie blieb allein im Wald zurück. Und wie war das eigentlich genau zwischen den beiden Freunden seit Jugendtagen: Wer war noch mal wie auf den anderen scharf?
Die am tiefsten empfundene Begierde, die in „Misericordia“ von Alain Guiraudie alle anderen Gelüste zum munteren Kreisen bringt, liegt am Anfang des Films bereits weit in der Vergangenheit und wird erst durch einen Tod wieder geweckt: Nach zehn Jahren kehrt Jérémie in das Dörfchen Saint-Martial zurück, weil Jean-Pierre (Serge Richard), ein Bäckermeister, bei dem er noch im Teenageralter eine Ausbildung gemacht hatte, unverhofft verstorben ist. Einstmals brachte Jérémie nicht den Mut auf, dem älteren Mann seine Zuneigung zu gestehen, nun ist alles, was bleibt, ein Foto aus dem letzten Sommer: Jean-Pierre am Strand, braungebrannt, mit Goldkettchen und einer Badehose, die in den Farben Frankreichs gemustert ist. Das Verlangen nach ihm wird für immer ein Spiel der Fantasie bleiben müssen.
Und doch sind da noch andere, seit langer Zeit unterdrückte Anziehungen zwischen den Bewohnern des Dorfes, die eigentlich Erfüllung finden könnten: Martine (Catherine Frot), die Witwe des Verstorbenen, sehnt sich nach Jérémie. Sie sieht in ihm eine Art Ersatz, dem sie nicht nur die Kleider ihres Mannes bis hin zur Unterwäsche zum Anziehen gibt, sondern der auch gleich die alte Bäckerei mit übernehmen soll. Auch Walter (David Ayala), noch so ein langjähriger, eher zurückgezogen lebender Freund, und ein im Nachbarhaus wohnender Pater (Jacques Develay), der später im Film einen der eindrücklichsten erigierten Penisse der Filmgeschichte offenbaren wird, scheinen in ihren zurückgedrängten Empfindungen eingekapselt zu sein.
Und dann ist da eben Vincent, Jean-Pierres Sohn, den seine Gefühle für den Jugendfreund so sehr verwirren, dass er Berührungen nur in aggressiven Auseinandersetzungen zulässt: Bei einem eskalierenden Streit auf einer Waldlichtung erschlägt ihn Jérémie mit einem Stein und vergräbt die Leiche…
Was der Auftakt zu einer sich verdüsternden Kriminalgeschichte über Schuld und Verdrängung werden könnte, erzählt Alain Guiraudie stattdessen in einem betont beschwingten Ton, ohne sich jemals wirklich auf die Regeln einer Komödie festlegen zu wollen. Die Hauptfigur spielt Félix Kysyl als einen undurchdringlichen, verführerischen Charmeur mit verwuschelten Haaren in der Stirn. Seine Gesichtszüge sind sanft und entspannt wie bei einem arglosen Kind, enthüllen aber auch eine abgründige Nervosität, wenn in ihnen Gedanken erkennbar werden.
Auch visuell sucht der Film nach einer vielstimmigen Leichtigkeit: Die das Dorf umgebenden Wälder und Felder inszeniert die Kamerafrau Claire Mathon, bekannt für ihre ästhetischen Veredelungstechniken von Festivalkinohits wie „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ oder „Saint Omer“, als ein bukolisches Himmelreich auf Erden: In lustvollen, herbstlichen Grün-, Ocker- und Brauntönen umhüllt die Natur die Bewohner wie eine vieldeutige Märchenlandschaft, in der letztlich alle Träume befriedigt werden können.
„Misericordia“ ist das lateinische Wort für Barmherzigkeit, und diese Art von erhebender Gnade erfahren die Figuren in den meisten Filmen von Alain Guiraudie („Der Fremde am See“, „Nobody’s Hero“) in der uneingeschränkten Erfüllung ihrer Begehren und Begierden. Als eigensinniger utopischer Fantast hält sich der Regisseur nicht lange mit Fragen von Moral auf: „Ein Verbrechen hält nicht ein ganzes Leben an“, resümiert der Priester bei der Beichte. Den Mörder Jérémie und alle, die ihn aus Liebe und sexueller Zuneigung decken, muss man sich als freie, glückliche Menschen vorstellen.
Fazit: In „Misericordia“ erzählt Alain Guiraudie einen Mordfall zwischen zwei alten Jugendfreunden als eine wundervoll beschwingte Fabel über die Erfüllung von Begierden.