Wie eine 18jährige Musikgeschichte schrieb – magisch und rasant erzählt
Von Susanne GietlVor 50 Jahren spielte der Jazzmusiker Keith Jarrett das unvergessliche „Köln Concert“ in der ausverkauften Kölner Oper. Noch heute ist die über ECM Records veröffentlichte Live-Aufnahme mit über vier Millionen Exemplaren die meistverkaufte Solo-Jazzplatte aller Zeiten. Dabei ist die Aufnahme unter widrigen Umständen entstanden: Der Stützflügel war viel zu klein für das 1.400 Leute umfassende Konzerthaus. Die hohen und tiefen Lagen ließen sich auf dem Flügel nicht spielen, die Tasten in der Mitte klemmten. Jarrett spielte mit kaputten Pedalen am 24. Januar 1975 das Konzert seines Lebens. kunst
Heute distanzieren sich Keith Jarrett und ECM Records von dieser Aufzeichnung, das Management des Musikrs hatte auch kein Interesse an einem Film über das 66-minütige Konzert (exakt waren es 66 Minuten und 5 Sekunden). Das macht aber nichts, weil Regisseur Ido Fluk in „Köln 75“ den Fokus auf die Person legt, ohne die das Konzert nie stattgefunden hätte: die 18-jährige von ihrer Jazz-Leidenschaft getriebene Vera Brandes. In seinem starken Film mit einem ganz eigenen guten Rhythmus lernt man ganz nebenbei auch noch etwas über die Geschichte des Jazz.
Von Anfang an stellt der Regisseur dabei klar: Das ist kein Film über Keith Jarrett und sein Kunstwerk, sondern über das, was nötig war, um die Kunst zu ermöglichen. Vera Brandes lernen wir zunächst im Alter von 50 Jahren kennen (gespielt von Susanne Wolff). Auf ihrer Geburtstagsfeier hält ihr Vater (Ulrich Tukur) eine Rede. Seine Tochter sei die größte Enttäuschung seines Lebens. Brandes schnipst einmal mit dem Finger und plötzlich befindet man sich in einem Tonstudio, wo uns der Musikjournalist Michael Watts (Michael Chernus) von berühmten Fehlstarts in der Musik erzählt. Bob Dylan lachte einen vermasselten Anfang bei der Aufnahme von „Highway 61“ einfach weg, andere stritten sich deswegen. Auch Vera Brandes gesteht einen Fehlstart ein: „Machen wir’s nochmal. Jünger.“
Als sehen wir Vera jetzt als Teenager (nun: Mala Emde). In den 1970er-Jahren schwänzt sie gerne mal die Schule, hört die avantgardistische Band CAN oder im LSD-Rausch die Politrockband Floh de Cologne („Fließbandbaby“). Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Isa (Shirin Lilly Eissa) geht sie für das Recht auf Abtreibung demonstrieren. Aber das nur am Rande. Denn als sie den Musiker Ronnie Scott (Daniel Betts) kennenlernt, bittet der sie unverhofft, eine Tour für seine Band zu buchen. Da ist sie gerade mal 16 Jahre alt (tatsächlich war sie sogar erst 15) und findet ihre neue Bestimmung...
Ido Fluk („The Ticket“) inszeniert „Köln 75“ mit rhythmischer Präzision. Er verbindet Szenen durch einzelne Stichworte miteinander und achtet auf eine klare Bildsprache. Sitzen Vera und ihr Bruder Fritz (Leo Meier) mit ihrem Vater am Esstisch, dann ist das Bild symmetrisch. Der arbeitslose „Verlierersohn“ Fritz hält sich gekrümmt am Frühstückstisch, während der Vater, seines Zeichens Zahnarzt Dr. Brandes, mit aufrechtem Körper über Erfolg im Leben spricht. Für ihn gibt es nämlich nur Sieger oder Verlierer im Leben.
Der musik- und schnörkellosen Spießerwelt ihrer Eltern steht die aufregende, bunte Musikwelt gegenüber – wobei Regisseur Fluk bewusst immer wieder Überschneidungen einbaut. Weil es dort einen eigenen Telefonanschluss gibt, nutzt die temperamentvolle Schülerin heimlich die sterile Praxis ihres Vaters, um ihre erste Tour für das Ronnie Scott Trio zu buchen. Der verhasste Ort wird zum Quell der Freude. Welche Musiker sie nach dem ersten Erfolg noch so betreut hat, wird übrigens nur kurz in Form von nächtlichen Plakatier-Aktionen erzählt.
Schließlich wollen wir zügig auch zum titelgebenden Ereignis kommen. Auf den Jazztagen in Berlin hat Vera Brandes ihre erste musikalische Begegnung mit Keith Jarrett (John Magaro). Während in Amerika die Ramones durchstarteten, drehte sich in Berlin alles um Jazz. Und mittendrin ist Miles Davis! Wir sehen Michael Watts im Publikum, der die vierte Wand aufbricht: „Ich werde noch Teil dieser Geschichte.“ Über Michael werden wir später nämlich auch den mit seinen eigenen Dämonen ringenden Musiker Jarrett als Mensch näher kennenlernen.
Doch erst einmal gehört dem Künstler die Bühne. Beleuchtet von zwei Scheinwerfern, sieht man nur eine dunkle Gestalt mit krummen Rücken. Seine Hände, jetzt in Großaufnahme, bewegen sich behutsam und mit großer Eleganz über die Tasten, das Gesicht spielt in Nuancen die Musik, die er in dem Moment kreiert. Die Kamera von Jens Harant („Das schweigende Klassenzimmer“) fängt Vera Brandes' regungsloses Gesicht ein, dann Jarrett, dann wieder Brandes. Vor Glück hat sie eine Träne im Auge.
Später erklärt Watts, worauf es beim Jazz ankommt. „Nichts ist vorgegeben. Außer dem Musiker, dem Moment und dem Klavier.“ Diese Magie, von der Brandes auch in Interviews spricht, spürt man in Fluks eindrucksvollem Film immer wieder. Es ist nicht nur ein wichtiger Baustein, um auch Jazz-Banausen die Musik ein wenig näherzubringen, sondern um den rasanten und spannenden zweiten Teil der Erzählung zu unterfüttern. Denn genau diesen Zauber will Brandes unbedingt auf eine große Bühne bringen und hat dafür die Kölner Oper auserkoren. Doch hier reiht sich eine Widrigkeit an die nächste, und die junge Frau geht sogar einen folgenschweren Pakt ein, der den Druck auf ein Gelingen weiter erhöht. Wie Vera Brandes alles in Bewegung setzt und reichlich rennt, um ihren Traum zu verwirklichen, wird zu bewegenden Erzählung.
Fazit: „Köln 75“ ist kein klassischer Musikerfilm, sondern ein faszinierendes Porträt der Frau hinter einem der größten Jazz-Konzerte aller Zeiten. Mit dynamischer Inszenierung, einer mitreißenden Hauptfigur und einem Gespür für die Magie des Moments gelingt Ido Fluk ein Film, der nicht nur Jazz-Fans begeistern dürfte. Einzig seine Faszination für den Mythos des Jazz ist stellenweise etwas überbordend – doch genau das macht seinen Charme aus.
Wir haben „Köln 75“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er als Berlinale Special Gala gezeigt wurde.