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    Maldoror
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Maldoror

    Der Fall Marc Dutroux als überlanger Polizei-Thriller

    Von Janick Nolting

    Der Fall Marc Dutroux hat nicht nur in Belgien für Aufsehen gesorgt. In den 1990er-Jahren entführte, missbrauchte und ermordete Dutroux mehrere Kinder und Jugendliche. Die Langwierigkeit und die Fehler bei der Ermittlung sowie der Verlauf des Prozesses sorgten für immenses Misstrauen sowie eine gesellschaftliche und politische Krise, die seitdem wiederholt in verschiedenen Formen thematisiert wurde.

    „Maldoror“ von Fabrice Du Welz ist nicht der erste Versuch, diesen Skandal künstlerisch zu adaptieren. Die bislang wohl kontroverseste Adaption stammt von Milo Rau, der die Geschichte in „Five Easy Pieces“ ausgerechnet mit einem Kinderensemble auf die Theaterbühne brachte. Raus Stück arbeitete nicht nur eine nationale Schockstarre auf, sondern entwickelte daraus eine verstörende Auseinandersetzung mit einer Ethik des Schauspiels, Machtverhältnissen und Voyeurismus in der Kunst sowie deren Re-Inszenierung realer Verbrechen.

    Der Belgier Fabrice Du Welz verzichtet hingegen weitgehend auf eine Reflexion über Form und Medialität oder die Konzeption von True-Crime-Stoffen. Stattdessen versucht er sich an einer zweieinhalbstündigen Auseinandersetzung mit der chaotischen Behördenarbeit und deren Überforderung, die Verbrechen aufzuklären und den Täter zu schnappen. Zwar fällt der Name Dutroux kein einziges Mal im Film (bei Welz heißt der Verbrecher Marcel Dedieu), doch die Parallelen zu den realen Hintergründen liegen auf der Hand.

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    Der Gendarm Paul stürzt beim Versuch, alleine die verschwundenen Mädchen zu finden, immer weiter ab.

    „Maldoror“ setzt im Jahr 1995 ein. Zwei Mädchen sind verschwunden. Während die medial und öffentlichkeitswirksam begleitete Sorge um die Kinder wächst, treten die Ermittlungen auf der Stelle. Als der Nachwuchspolizist Paul (Anthony Bajon) Teil eines Beschattungsprojekts namens Maldoror wird und den Sexualstraftäter Dedieu (Sergi López) ins Visier nimmt, entwickelt er eine regelrechte Obsession, den Fall zu lösen. Die Ermittlungsarbeit greift bald auf sein Privatleben über.

    Fabrice Du Welz ist ein Regisseur, der sich in seiner Filmographie mehrfach mit kriminellen Unter- und Abgründen beschäftigt hat, nicht nur im Genre des Thrillers und Kriminalfilms, sondern auch im Horror-Bereich. Am drastischsten bisher in seinem Schocker „Calvaire“ aus dem Jahr 2004, der hin und wieder neben Titeln wie „Irreversible“ oder „Romance XXX“ zur sogenannten New French Extremity gezählt wird. Umso gespannter konnte man sein, wie grenzüberschreitend sich der Regisseur diesem außergewöhnlichen und erschütternden Kriminalfall widmen würde.

    Historische und künstlerische Abgründe

    Am Ende ist leider ein Film entstanden, der keine klare Linie erkennen lässt und sich munter Versatzstücke und Motive verschiedener Genres vom Krimi, Film Noir, Exploitation-Film über das psychologische Drama bis zum Horror und Polizei-Thriller durcheinander wirft. Das birgt einige packende Sequenzen, die sich vor allem in der letzten Dreiviertelstunde dieses viel zu lang geratenen Films tummeln.

    Und das sind vor allem jene, die den Horror auskosten, in dem die Regiearbeit von Du Welz am deutlichsten glänzt. Wenn es sein Protagonist mit (Ja!) gefräßigen Schweinen zu tun bekommt und die Aufnahmen in einen Wust verwackelter, grober Nahaufnahmen aus Schlamm, Blut und Körperteilen stürzen. Oder wenn sich die ganze angestaute Aggression in einem dreckigen Gewaltakt in der Natur entlädt.

    "Maldoror" schmückt die Leerstellen des realen Falles aus

    Die Intensität solcher Momente sucht man im restlichen Film vergeblich. Stattdessen ist „Maldoror“ im Auswalzen des Falls und seinen austauschbaren Bildern so behäbig und wirr wie die porträtierten Ermittlungen selbst geraten. Auch seine Haltung zu dem Stoff sorgt fortwährend für Stirnrunzeln. Trotz seiner Behörden-Kritik scheint sich Du Welz alle Mühe zu geben, die gesellschaftlichen Wogen zu glätten. Nur, um welchen Preis? Im Umkehrschluss bedeutet das nämlich auch, dass es sich „Maldoror“ mit niemandem komplett verderben will, obwohl er die vergifteten kriminellen Strukturen, die er über den Einzeltäter hinaus zeichnet, in aller Brutalität vorführt.

    Der Film ist keineswegs als exakte Bebilderung der realen Umstände zu verstehen. Das Drehbuch von Du Welz und Domenico La Porta schmückt die Leerstellen und offenen Fragen des Falls munter mit eigenen Ideen aus. Im Zentrum: der Aufstieg und Fall des Polizisten Paul. Doch wenn man mal ehrlich ist: Der Cop, der sich so sehr in der Jagd nach dem Bösen verliert, dass er sich und seine Familie an den Rand der Zerstörung treibt. Wie oft will man diesen Klischee-Plot noch erzählen?

    Die fragwürdigen Vorzüge eines Hitzkopfes

    „Maldoror“ vermag nicht, ein sonderlich einleuchtendes, nachvollziehbares Bild seiner spezifischen Ermittlung und den Gründen ihres Scheiterns zu transportieren. Stattdessen schlachtet er das Drama eines engagierten Rebellen aus, der die einzige Alternative in dieser Welt zu verkörpern scheint. Die kritisierte Gendarmerie erhält somit dennoch ihren Inkognito-Antihelden, auch wenn sein Vorgehen zu weiteren Exzessen führt. Hätten Sie mal auf ihn gehört, diesen Hitzkopf, der notfalls mit rabiaten Mitteln kurzen Prozess macht! Derlei Selbstjustiz-Erzählungen blicken natürlich auf eine lange, faszinierende Genrefilm-Tradition zurück, aus der Du Welz lustvoll zitiert. Als Ertrag seiner überlangen Auseinandersetzung ist sie aber allzu plump geraten.

    Dabei sind die interessanten Stolperfallen in der Form eigentlich vorhanden! Wenn sich der Film ganz auf die Subjektivität, die puren audiovisuell übersetzten Affekte verlässt. Wenn gleich zu Beginn ein brachial dröhnender, rot eingefärbter Vorspann über das Publikum hinwegdonnert und die Buchstaben des Titels, gleich einer alten VHS-Kassette, zu krisseln und rauschen beginnen. Später werden sie mit einer kaum zu ertragenden Videoaufnahme parallelisiert. Der mediale Bruch, der dort schlummert, hätte womöglich einen spannenderen Film ergeben. So oder so hätte „Maldoror“ ein bisschen mehr von der selbstreflexiven Radikalität des eingangs erwähnten Milo Rau gut zu Gesicht gestanden. Und ein paar weniger abgegriffene Thriller-Formeln.

    Fazit: Fabrice Du Welz adaptiert in „Maldoror“ den Kriminalfall Dutroux mit einzelnen packenden Horrorsequenzen. Sie versanden jedoch in einem behäbig bis wirr erzählten und in seiner Haltung zu dem gezeigten Behördenversagen reichlich grobschlächtigen Film.

    Wir haben „Maldoror“ auf dem Filmfest Venedig 2024 gesehen.

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