Mission Comeback: Accomplished
Von Kamil Moll„Du fragst dich, wer hier sitzt?“ Siddharth Anands „Pathaan“ ist von Beginn an ein Film, der sehr genau weiß, warum seine Zuschauer*innen ihn sehen wollen – und der deshalb umso lustvoller und neckischer mit den Erwartungen spielt: Ein Soldat, der irgendwo in einem nicht näher benannten Dorf in Mittelafrika festgenommen wurde, weil er nach dem Namen eines Terroristen fragte, ist in einer Lagerhalle an einen Stuhl gebunden. Niemand kennt seine Identität, sein Gesicht ist hinter verschwitzten, strähnigen Haaren nicht zu erkennen, die brummelnde Stimme klingt tiefer als erwartet. Minutenlang kreist der Film um die Auflösung herum, zögert sie hinaus, bis dieser Soldat, es ist der titelgebende Pathaan, sich plötzlich befreit. Er springt auf das Rotorblatt eines Hubschraubers, gleitet an ihm entlang, liefert sich ein brachiales Feuergefecht und entkommt. So beginnt das Kino-Comeback des Bollywood-Idols Shah Rukh Khan als Action-Schauspieler.
Mitte der Zehnerjahre befand sich die Karriere des wohl größten Bollywood-Stars aller Zeiten plötzlich auf einem unverhofften Tiefpunkt. Nach einer Reihe von relativen Misserfolgen, die nahelegten, dass seine Strahlkraft als romantischer Held allmählich am Ausglühen war, entschloss er sich für eine Auszeit als Hauptdarsteller und absolvierte in den letzten vier Jahren nur noch obligatorische Kurzauftritte in den Filmen anderer Stars des indischen Kinos. Nach dieser ungewohnt langen Unterbrechung sieht man „Pathaan“ nun sofort an, wie er konzentriert versucht, seinem Hauptdarsteller ein anders akzentuiertes Image zu verschaffen. Der Einsatz dabei war enorm: Obwohl er in unterschiedlichen Settings bereits Gangster, Polizisten oder Soldaten gespielt at, ist der Film nun tatsächlich Shah Rukh Khans reichlich verspäteter Einstand im expliziten Action-Genre.
Shah Rukh Khan liefert in „Pathaan“ mit 57 Jahren seinen Einstand als Action-Star, weshalb es mitunter auch mal etwas Düsterer zugeht.
Auch seine Figur, Pathaan, ist ein Abgeschriebener und Zurückgekehrter. Als Agent des indischen Geheimdienstes RAW wurde er bei einer Mission in Myanmar schwer verletzt und für dienstunfähig erklärt. Von der Bildfläche verschwunden, rekrutiert er andere ehemalige Professionals für eine inoffiziell operierende Einheit namens Joint Operation and Covert Research, kurz JOCR – eine Elite-Truppe, bestehend aus scheinbar Versehrten und Traumatisierten. Entlang des jahrzehntelangen Konflikts zwischen Indien und Pakistan um die Region Kaschmir wird Shah Rukh Khan an der Seite seiner langjährigen Leinwandpartnerin Deepika Padukone in eine von Doppelidentitäten beherrschte Agentengeschichte verwickelt, deren Fäden von einem anderen ehemaligen Geheimdienstler gezogen werden.
Jim, gespielt vom indischen Genre-Veteranen John Abraham, leitet Outfit-X, eine Terrororganisation, die sich als ideologieloser Konzern präsentiert, für den Terrorismus als Geschäftsmodell funktioniert: Der Markt bestimmt! Mit einem aus einem Forschungslabor entwendeten und mutierten Virus, dessen Ansteckungsgefahr Covid-19 um ein Tausendfaches übersteigen soll, will er die Interessen Pakistans in Kaschmir durchsetzen und sogar die indische Hauptstadt Neu-Delhi angreifen…
Mit seinem Geheimdienst-Setting ist „Pathaan“ auch übergeordnet Teil des sogenannten YRF Spy Universe, einer Filmreihe der Produktionsfirma Yash Raj Films. Zwei der vorhergehenden Filme zählen auf dem heimischen Markt zu den 20 erfolgreichsten indischen Filmen überhaupt – ein Erfolg, den „Pathaan“ als erste mit IMAX-Technik gedrehte indische Produktion womöglich noch überflügeln wird. Praktische Effekte und aus dem Computer stammende Ergänzungen verschmelzen dabei auf eine Weise, wie sie sonst im aktuellen Kino nur noch in den Filmen von Michael Bay und vor allem dessen Netflix-Actioner „6 Underground“ auf vergleichbare Weise erlebt werden kann. Der Einsatz von CGI ist exzessiv, ersetzt auf gut kalkulierte Weise aber nicht die unmittelbare Wirkung von Stuntarbeit, sondern setzt da an, wo die Tricktechnik in bislang ungesehenen Bildern über das körperlich Mögliche hinausgehen kann: Zwei Männer flüchten durch die Waggons eines Zuges, der an einer zersprengten Brücke zeitgleich in die Tiefe stürzt.
Viel mehr als durch seinen Agentenplot, der mitunter in einer mehrfach verschachtelten Rückblendenstrukturen auch arg konfus gerät, wird „Pathaan“ sowieso durch eine stilvolle und ausgeklügelte Abfolge von Set Pieces dramatisiert. In der Tradition des „Mission: Impossible“-Franchises verstehen Shah Rukh Khan und Siddharth Anand dabei, dass ein funktionierender Big-Budget-Actionfilm nicht nur ausgreifende, scheinbar ins Endlose verlaufende Kämpfe benötigt, sondern auch körperlichere Fights auf engem Raum. Auf eine Motorradverfolgungsjagd über einen vereisten See, der durch den Druck der Räder langsam nachgibt, folgt somit als inszenatorischer Höhepunkt des Films ein intimeres Gefecht: In einer baufälligen Holzhütte am Hang eines Berges kämpfen Pathaan und Jim um die Fernsteuerung einer Kapsel, die innerhalb eines Flugzeugs den tödlichen Virus streuen könnte. Bei jeder Bewegung zerbricht das morsche Holz, bei jedem weiteren Schlag zersplittern die Streben der Hütte, die sich im Verlauf des Kampfes immer weiter gegen Abgrund neigt.
Zugleich liefert die Bollywood-Ikone aber natürlich auch all die Zutaten, die man von Shah Rukh Khan nun mal erwartet.
Mit Tom Cruises Filmen der letzten Jahre teilt sich „Pathaan“ auch in sanfter, nebensächlicher Ironie das Bewusstsein fürs Altern. Bei einem gemeinsamen Ausbruch aus einem russischen Gefangenenzug reicht ein RAW-Agent (Cameo-Auftritt für Indiens wohl größten Action-Star Salman Khan) Pathaan eine Packung Schmerztabletten: Wirklich weh tun würde es sonst erst später. Eigentlich drückt diese Geste aber auch noch etwas anderes aus: Seine Bewährungsprobe für ein Spätwerk als Action-Schauspieler dürfte Shah Rukh Khan mit 57 Jahren damit bestanden haben.
Fazit: Shah Rukh Khans Kino-Comeback ist ein mustergültig inszenierter Actionfilm, der körperliche Stuntarbeit mit entfesselter CGI auf eine Weise kombiniert, wie sie im aktuellen Kino sonst selten zu sehen ist. Ein frühes Genre-Highlight für 2023.