Was dich nicht umbringt, macht dich nur verrückter
Von Jochen Werner„And everyone has a heart and it's calling for something / And we all are so sick and tired of seeing things as they are“ – so barmt der große Songwriter Nick Cave in seinem Song „Bright Horses“ und besingt damit schon zu Beginn von Andrew Dominiks Dokumentar-/Konzertfilm „This Much I Know To Be True“ die Schönheit der Realitätsflucht. Voll von Tyrannen und Narren sei die Welt, und die gerade noch besungenen Pferde mit den Feuermähnen in den menschenleeren Straßen gebe es in Wirklichkeit gar nicht. Aber sein Baby kommt mit dem Fünfuhrzug – und das sei am Ende doch genug, um ihn an die Feuerpferde glauben zu lassen. „And what doesn't kill you just makes you crazier“, heißt es am Ende von Caves jüngstem Album „Carnage“ – und an Gelegenheiten zum Verrücktwerden mangelte es im Leben des großen Schmerzensmannes in den letzten Jahren ganz sicher nicht.
Den heftigsten Einschnitt markierte dabei der Tod von Caves 15-jährigem Sohn Arthur, der im Sommer 2015 von einer Klippe bei Brighton stürzte. Infolge dieses tragischen Unfalls, den Cave 2016 im selbst für seine Maßstäbe stockfinsteren Album „Skeleton Tree“ verarbeitete, entstand noch im selben Jahr der ebenfalls von „Killing Them Softly“-Regisseur Andrew Dominik inszenierte Dokumentarfilm „One More Time With Feeling“ – und zwar aus einer letztlich ganz pragmatischen Motivation heraus: Damit der trauernde Cave zur Veröffentlichung von „Skeleton Tree“ keine Interviews geben musste sowie die Anzahl der Livekonzerte reduzieren konnte, entschied er sich, stattdessen einen als Special Event in zahlreichen internationalen Kinos präsentierten 3D-Film zu machen, in dem er sich sowohl zu den tragischen Ereignissen in seinem Leben äußert als auch die neuen Songs vor der Kamera zur Aufführung bringt.
Der große Songwriter Nick Cave hat im Lockdown angefangen, Porzellanfiguren mit Höllenmotiven zu basteln.
Seither sind sechs Jahre vergangen, in denen Cave zwei weitere Alben aufgenommen und mit The Red Hand Files eine sehr eigenwilliges Online-Experiment gestartet hat. Dabei handelt es sich um ein im Grunde ganz einfaches Blog mit einem Formular, über das ihm Fans aus aller Welt ganz intime, philosophische oder poetische Fragen stellen können, auf die Cave dann, wenn man ein wenig Glück hat und die Frage gut ist, so ausführlich wie zugewandt antwortet. Alles andere als ein weiterer PR-Kanal, sondern ein fühlbar ehrliches Medium des Austauschs mit seinen Hörer*innen weit jenseits der üblichen Marketinginstrumente.
Öffentliche Auftritte sind für Cave eine Seltenheit geblieben, wenn auch inzwischen aus völlig anderen Gründen: Seit zwei Jahren liegt das öffentliche Leben angesichts der scheinbar endlosen Lockdowns der Coronazeit darnieder, was Cave die Möglichkeit nahm, die Songs seiner letzten beiden Alben – dem Meisterwerk „Ghosteen“ (2019, mit seiner Band The Bad Seeds) sowie dem mit seinem engsten Mitstreiter Warren Ellis in nur zwei Tagen aufgenommenen „Carnage“ – live vor Publikum zu spielen. Der Anlass für „This Much I Know To Be True“ ist also wieder vorrangig pragmatischer Natur. Was aber daraus entsteht, ist einfach nur wunderschön.
Wenn man seine Konzerte ohnehin ohne Publikum spielen muss, dann kann man bei der Auswahl des Ortes auch kreativer werden.
In seiner Form ist Dominiks Films erneut ein Hybrid aus Dokumentar- und Konzertfilm. Dabei schließt er direkt an das Porträt Caves in „One More Time With Feeling“ an, indem er das Fortschreiten des Trauerprozesses über das zwischenzeitlich vergangene halbe Jahrzehnt aufgreift. Es ist ein langer und schmerzvoller Heilungsprozess, versteht sich – und trotzdem ist der Cave, den wir hier sehen, ein veränderter Mann, der auf berührende Weise über seinen Umgang mit dem Verlust und sein verändertes Bild vom Leben und dem Dasein in der Welt spricht. Und singt natürlich, denn im Grunde steckt alles, was Cave darüber weiß und uns mitzuteilen hat, ohnehin seit jeher in seinen Liedern.
Daher ist es auch umso schöner, dass „This Much I Know To Be True“ so sehr ein Film über das kollaborative Arbeiten daran ist – und über Warren Ellis, den genialen Musiker, der bereits seit fast 30 Jahren als Mitglied der Bad Seeds mit Cave musiziert und über die Jahrzehnte hinweg nach und nach zu Caves wichtigstem Kollaborateur wurde. Fertige Songs zu schreiben mache für ihn eigentlich überhaupt keinen Sinn mehr, sagt der wahrscheinlich bedeutendste Songwriter seiner Generation im Film einmal, denn er könne Ellis ohnehin nicht dazu bewegen, sie so wie geplant zu spielen. Stattdessen bringe er einen Stapel Lyrics mit und schließe sich so lange mit Ellis in einem Raum ein, bis „inmitten eines Ozeans aus Bullshit“ eine Handvoll magischer Momente entstünden.
Man kann sich das hervorragend vorstellen, wenn man Ellis in Dominiks Film sieht. Trancehaft versunken über Knöpfen und Reglern kauernd, wie ein Derwisch die Instrumente bearbeitend, und dann urplötzlich in krassem Kontrast zu seinem wirrbärtigen, waldschrathaften Äußeren in engelsgleichen Gesang ausbrechend wird der Mann neben dem Rockstar Nick Cave zum zweiten Hauptprotagonisten von „This Much I Know To Be True“. Natürlich darf bei einem Konzertfilm – auch wenn es einer ohne Publikum ist – eine entscheidende Frage nicht in Vergessenheit geraten: Wie sind denn nun die Konzertaufnahmen?
Auch dies kann man allerdings guten Gewissens mit „hervorragend“ beantworten, was auch kaum überrascht, tat sich doch Andrew Dominik bisher meist ohnehin eher als großer Stilist denn als begnadeter Erzähler hervor. Seine Anwesenheit sowie die des Filmteams versteckt Dominik nicht, der ansonsten leere Raum ist gesäumt von Scheinwerfern und Kameras – die Tonarme ragen immer wieder in den Bildkader und die Schienen der Steadycam reichen bis unter das Klavier. So entsteht eine Werkstattatmosphäre, die ganz gut zum Film passt, der ja auch vorrangig ein Film über das Musikmachen als kollaborative künstlerische Arbeit, als Zusammentreffen von Genie und Handwerk auf der Basis von oft wortloser Kommunikation und Vertrauen ist.
Dass das (Kunst-)Handwerk für Cave auch in anderer Form eine Rolle spielt, hatten wir übrigens bereits am Anfang von „This Much I Know To Be True“ erfahren. Da zeigt dieser Andrew Dominik, seiner Kamera und somit auch uns eine Serie von noch unvollendeten Porzellanfiguren, an deren Fertigstellung er gerade arbeite. Den Kreuzweg einer Teufelsfigur zeichnet Cave durch eine Reihe kleiner Skulpturen nach, und es sind seit den Dreharbeiten wohl noch einige Figuren hinzugekommen, nur die letzte Station war von Anfang an klar.
Da wird dem verstorbenen Teufel am Ende seines Lebenswegs durch einen kleinen Jungen die Hand zur Versöhnung gereicht … er habe nun, da Tourneen und Großveranstaltungen untersagt seien, den Empfehlungen seiner Regierung Folge geleistet und habe umgeschult auf Keramik, kommentiert Cave die Präsentation seiner Skulpturen, und wir hoffen, dass sich auch dahinter nur eine weitere seiner schönen Lügen verbirgt.
Fazit: Ein sehr gelungener Konzertfilm für eine Zeit ohne Konzerte, und doch auch weit mehr als nur eine Empfehlung für Nick-Cave-Fans. „This Much I Know To Be True“ ist nämlich nicht nur ein weiterer Dokumentarfilm über den großen Songwriter, sondern ein berührendes Porträt der fortlaufenden, überbordend kreativen künstlerischen Zusammenarbeit mit Warren Ellis, dem heimlichen Star des Films.
Wir haben „This Much I Know To Be True“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.