Ein epischer Film über Familie (und alles andere)
Von Michael MeynsEinen Film über das große Ganze wollte „Der freie Wille“-Regisseur Matthias Glasner mit „Sterben“ drehen, einen Film über Geburt und Tod, über Familien, Eltern, Kinder, über Liebe und Sex und alles dazwischen. Hehre Ambitionen, wie man sie im sich allzu oft in Schubladen aufhaltenden deutschen Kino nicht oft formuliert hört. Ambitionen aber auch, an denen man leicht scheitern kann. So wie Glasner in der zweiten Hälfte seines überlangen Epos, das drei Stunden um eine Familie und ihr Umfeld kreist, sich dabei zu spektakulär guten Szenen aufschwingt, in denen deutsche Schauspielstars wie Lars Eidinger und Corinna Harfouch herausragen, dann aber auch wieder verkürzt und in Klischees erzählt. Vielleicht war der Ansatz am Ende doch einen Tick zu gewagt, auch wenn jedem Filmemacher mit solch gewaltigen Ambitionen erst einmal gratuliert gehört.
Lissy Lunies (Corinna Harfouch) sitzt gleich im wahrsten Sinne des Wortes in der (eigenen) Scheiße. Ihr Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) kann ihr da aber auch nicht helfen, denn der leidet an Parkinson, läuft schon mal nackt durchs Treppenhaus und wird bald in ein Pflegeheim abgeschoben. Zwei Kinder hat Lissy, doch die stehen der Mutter ebenfalls nicht zur Seite, sondern kämpfen mit eigenen Problemen: In Berlin probt der Dirigent Tom (Lars Eidinger) mit einem Jugendorchester eine Komposition seines Freundes, dem depressiven Komponisten Bernard (Robert Gwisdek). Zusätzlich ist Tom quasi Vater geworden, denn seine Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) hat ein Kind bekommen, will mit dem leiblichen Vater des Kindes aber möglichst wenig zu tun haben. In Hamburg wiederum lebt Toms Schwester Ellen (Lilth Stangenberg) ein Leben im Rausch, trinkt, singt und beginnt eine Affäre mit ihrem verheirateten Zahnarzt-Chef Sebastian (Roland Zehrfeld), als deren Basis Alkohol und Sex dient…
Uff. Einen ganz schönen Reigen an Figuren, Verwicklungen, Kindern und Familienstrukturen tischt uns Matthias Glasner da in seinem neuen Film auf, der in fünf Kapiteln und einem Epilog ein breites Panorama von Emotionen und Exzessen entfaltet. Während die ersten drei Kapitel nach den drei Familienmitglieder Lissy, Tom und Ellen benannt sind, heißen spätere Liebe und Leben, was – zusammen mit dem Filmtitel „Sterben“ – Erinnerungen an Karl Ove Knausgårds autobiografisches Romanprojekt weckt, das in ähnlicher Breite von Familien, Lieben und Kunst erzählte. Wenn es aber doch so etwas wie das Zentrum der Geschichte gibt, dann ist das Tom.
Lars Eidinger („Abgeschnitten“) spielt ihn als typischen Berliner der Gegenwart, freiberuflich tätig, ichfixiert, keine festen Bindungen eingehend (seine von Saskia Rosendahl gespielte Assistentin Ronja ist eine On-Off-Affäre), sich in unterschiedlichen Patchwork-Strukturen bewegend. Mit leichter Ironie und Spott zeichnet Glasner die Welt des Prenzlauer Berges, deutet die Zerrissenheit einer Generation an, die oft oberflächlich und unbestimmt agiert, aber doch nach Emotion und Pathos strebt. Das gilt vor allem für Toms manisch-genialistischen und zugleich manisch-depressiven Komponisten-Kumpel Bernard, der ein Stück namens „Sterben“ geschrieben hat, dessen Proben und Aufführungen den Film strukturieren, bisweilen aber auch bremsen.
Noch mehr aus dem Rhythmus reißt den Film allerdings die Figur der Schwester Ellen, die erst nach knapp anderthalb Stunden, viel zu spät, das erste Mal leibhaftig auftritt, nachdem man zuvor gelegentlich ihren Namen gehört hat. Ein einziges Klischee ist sie, irgendwie unbestimmt verletzt, versteckt sie sich hinter ihrer rotzigen Fassade und einer Sonnenbrille, kann nur fühlen, wenn sie mehrere Cocktails intus hat und bewegt sich auf einem konstanten Pfad der Selbstzerstörung. Allzu oft hat man solche Figuren schon gesehen, Glasner kann ihr nichts Neues abgewinnen, was umso mehr erstaunt, als die anderen beiden im Eltern-Kinder-Trio so komplex geraten sind.
Besonders eine Begegnung zwischen Mutter und Sohn, zwischen Lissy und Tom, zwischen Corinna Harfouch und Lars Eidinger, markiert den eindeutigen Höhepunkt des Films: Nach der Beerdigung von Mann bzw. Vater sitzen die beiden, die sich augenscheinlich nicht viel zu sagen haben, am Tisch zusammen und sagen sich endlich die Wahrheit: „Du warst ein Unfall!“, sagt die Mutter und deutet an, ihren Sohn, als der noch ein Baby war, bewusst auf den Boden geworfen oder gegen die Wand geschlagen zu haben, so genau wisse sie das nicht mehr: „Du mochtest mich nicht, aber ich mochte dich ja auch nicht“, sagt sie und verschwindet nach dieser Mutter-Sohn-Szene für die Ewigkeit praktisch aus dem Film.
Doch der geht auch ohne sie noch anderthalb Stunden weiter, hat mit dieser Szene aber die Messlatte bereits nach der Hälfte so hoch gehängt, dass er diese Qualität nie wieder erreichen wird. Eine seltsame Struktur hat Glasner hier gewählt, will eigentlich vom Verhältnis einer Familie erzählen, doch zwei der Mitglieder – Ellen und Lissy – begegnen sich nie und haben beide eigentlich nur Nebenrollen. So bleibt vieles in „Sterben“ nur angedeutet, all die Kinder, die nicht gewollt waren und mit Vätern aufwachsen, die nicht ihre leiblichem sind, all die Beziehungen, die im Ungefähren schwimmen, all die Männer, die so sehr an ihrer Freiheit hängen, dass sie Gefahr laufen, das Leben zu verpassen.
In den besten Momenten entfaltet Matthias Glasner ein breites, reiches Geflecht an Figuren und Beobachtungen, erzählt von einer Generation, zu der er mit fast 60 nicht mehr ganz zählt, die alle Freiheiten für sich in Anspruch nimmt, dabei aber oft ihren Halt zu verlieren droht. Pointierte, witzige, emotionale, auch unangenehme und schwer zu ertragende Momente gelingen ihm hier, doch dazwischen stehen am Ende vor allem im Alkoholikerinnen-Part ein paar unglaubwürdige, klischeehafte Szenen zu viel, um den hehren Ambitionen vollends gerecht zu werden. Der Versuch eines ganz großen Wurfes, der seinen Anspruch oft erfüllt, aber bisweilen auch deutlich verfehlt.
Fazit: Mit einer ganzen Riege deutscher Schauspielstars entfaltet Matthias Glasner in „Sterben“ das breite, oft reiche Bild einer Familie. Dabei entstehen einige der herausragenden Momente des Kinojahres – zugleich verliert er sich aber auch in einer Struktur, die ihre absoluten Höhepunkte schon zu früh erreicht und sich dann mit einem knapp einstündigen, in allzu bekannten Bahnen verlaufenden Selbstzerstörungs-Drama selbst ganz schön ausbremst.
Wir haben „Sterben“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.