Zwischen den Bomben
Von Markus TschiedertIm Spätsommer 1940 begann die deutsche Luftwaffe einen Großangriff auf Großbritannien. Fast acht Monate lang wurde vor allem London permanent bombardiert, um die Bevölkerung zu demoralisieren und die Regierung zur Kapitulation zu zwingen. Die Briten bezeichneten diese unberechenbaren Angriffe als „The Blitz“. Obwohl mehr als 40.000 Zivilist*innen den Tod fanden und fast eine Million Gebäude getroffen wurden, passierte aber das genaue Gegenteil: Der Zusammenhalt und Kampfgeist der britischen Bevölkerung wurde nur noch verstärkt und alle halfen, das Land verteidigungstüchtig zu machen.
In dieser aufrüttelnden Zeit lässt der englische Regisseur Steve McQueen („12 Years A Slave“) seinen neuesten Film „Blitz“ spielen. Diese Angriffe auf britischem Boden während des Zweiten Weltkrieg bilden aber nicht nur den historischen Hintergrund für eine beherzte Mutter-Sohn-Geschichte, sondern sorgen zugleich für einen unglaublich dynamischen Erzähl-Fluss im Film, immer wieder angetrieben von einer hervorragenden Saoirse Ronan („The Outrun“) und dem inzwischen elfjährigen Elliott Heffernan, der hier zum ersten Mal vor der Kamera stand und eine erstaunliche Leistung als Debütant abliefert.
Mit seiner Mutter Rita (Saoirse Ronan) und seinem Großvater Gerald (Paul Weller) lebt der neunjährige George (Elliott Heffernan) in einem Londoner Arbeiterviertel in eher bescheidenen Verhältnissen. Dass George eine dunklere Hautfarbe hat, macht es nicht einfacher. Täglich ist er Diskriminierungen ausgesetzt, nur zu Hause findet der Junge Schutz und Geborgenheit. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird London aus der Luft von deutschen Fliegern angegriffen.
Da es in der Stadt immer gefährlicher wird, sollen die Kinder aufs Land bei Gastfamilien untergebracht werden. George ist aber nicht willig, London zu verlassen. Rita, die in einer Rüstungsfabrik schuftet, bleibt jedoch nichts anderes übrig. Auf dem Bahnhof beschimpft George seine Mutter noch, wie sehr er sie dafür hassen würde und setzt sich ohne Abschiedszeremonie in den Zug. Dort wird er sogleich von anderen Kindern gehänselt. George ahnt, was ihm bevorsteht und springt aus dem fahrenden Zug. Er will zurück nach London – und damit beginnt eine leidvolle Odyssee eines Jungen, die es in sich hat…
Steve McQueen mischt Kriegsdrama und Coming-of-Age-Story. Sein junger Protagonist trifft bald drei andere Ausreißer, die George sofort in ihre Mitte aufnehmen. An dieser Stelle glaubt man noch, dass nun eine kindgerechte Abenteuerreise à la „Stand By Me“ von vier Jungs beginnt, die gemeinsam durch dick und dünn gehen werden. Aber schon nach wenigen Minuten erinnert uns McQueen wieder an die schonungslose Realität und versetzt seinem Publikum einen regelrechten Schock. George ist wieder auf sich allein gestellt, mitten drin in den Wirren eines erbitterten Krieges.
Parallel erfahren wir, wie es der Mutter ergeht, die lange nicht weiß, dass ihr Sohn ausgebüxt ist. Aus ihrer Perspektive wird die Not der Bevölkerung sichtbar, die sich Nacht für Nacht vor Bombenangriffen fürchten muss. Da die Platzkapazität offizieller Schutzräume nicht ausreicht, fordern die Menschen, in die unter der Stadt gelegenen U-Bahnhöfe eingelassen zu werden, was allerdings zu Tumulten führt. Damit wird auch der Ton des Films nochmals deutlich düsterer. Die Auswüchse der Angriffe werden sichtbar: Großbrände, verschüttete Straßen, ausgebombte Häuser und überall Leichen.
In dieses apokalyptische Szenarium gelangt auch George, ohne zu wissen, wo genau in London er sich befindet. Tod und Verderben lauern auf seinen Wegen. Er gerät unter die Fittiche einer Verbrecherbande, die ihn für Plünderungen missbraucht. Das erinnert ein wenig an „Oliver Twist“ – und wie bei Charles Dickens hofft man inständig, dass das Leiden des Jungen bald ein Ende finden möge. Bis dahin muss er sich aber noch seiner eigenen Identität stellen. McQueen lässt George in Schaufenster blicken, wo mit schwarzen Menschen klischeehaft für Kakao geworben wird. Der ganz alltägliche Rassismus jener Zeit – und parallel wird in Rückblenden erzählt, wie sich Rita einst in den schwarzen Marcus (CJ Beckford) verliebte und sich damit selbst Anfeindungen aussetzte.
Das Versagen staatlicher Institutionen wird von McQueen angeprangert, wenn Georges Vater von der Polizei abgeführt wird, obwohl er es war, der von weißen Rassisten angegriffen wurde. Eine Art väterliche Figur nimmt dafür der Wächter Ife (Benjamin Clémentine) ein, der den orientierungslosen Knaben nachts aufgabelt und ihn in seine Obhut nimmt. Ife ist schwarz und für George einer der ersten Menschen, mit dem er sich wirklich identifizieren kann. Ife ist mit seiner Güte und Geistesgröße die stärkste Sympathiefigur, und obwohl sein Auftritt nur kurz ist, versinnbildlicht er Hoffnung und Helligkeit.
Das alles wird elegant in den Hauptplot integriert, der sich darum dreht, dass sich Mutter und Kind wiederfinden. Als Rita vom Verschwinden ihres Sohns erfährt, setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung. Nebenbei scheint sich eine kleine Lovestory anzubahnen, wenn der von Harris Dickinson gespielte Soldat Jack der verzweifelten Mutter bei der Suche nach ihrem Sohn hilft. Dickinson, der mit Ronan schon für „See How They Run“ vor der Kamera stand, nimmt man die Rolle des heimlich Verliebten gern ab. Ein weiterer Hoffnungsschimmer, obwohl auch diese Episode nicht auserzählt wird. Dafür ist auch gar keine Zeit, denn am Ende muss es doch das Bild geben, wie sich Mutter und Sohn in die Arme fallen?!
„Blitz“ ist ein hochemotionaler Film, in dem viel verhandelt wird und der spektakuläre Bilder bietet, die das London jener Zeit glaubwürdig wiedergeben. Großes Erzählkino, das die große Leinwand braucht. Fast ein wenig schade also, dass „Blitz“ leider nur für kurze Zeit in ausgewählten Kinos zu sehen sein. Bereits 15 Tage nach Kinostart wird er im Streaming-Angebot von Apple TV+ auftauchen. Wer trotzdem die Chance hat, „Blitz“ im Kino sehen zu können, sollte sie also unbedingt nutzen.
Fazit: „Blitz“ ist großes Kino jenseits von Marvel- und Monster-Schlachten. Hier geht es um echte Gefühle vor einem historischen Hintergrund, der nur allzu deutlich macht, dass in einem Krieg immer die Zivilbevölkerung am meisten zu leiden hat. Damit gewinnt „Blitz“ zugleich auch eine ungeheure Aktualität.