Kaum war dieser Film in die ersten Kinos in Island gekommen, fühlten sich manche an die frühen Streifen von Pedro Almodóvar erinnert. Und tatsächlich ist „101 Reykjavík“ ein ungewohnter, sehr lustiger und frecher Film, der mit Geschlechterrollen, Verweigerungshaltungen und Sexualität sein Spielchen treibt.
Hlynur (Hilmir Snaer Guðnason) ist professioneller Nesthocker. Mit 28 Jahren lebt er noch immer bei seiner Mutter Berglind (María Karlsdóttir), die beim Versorgungsamt arbeitet und vor der Sohnemann meint, sie sei sein Versorgungsamt. Der Vater, Alkoholiker, ist schon länger up, up and away. Hlynur ist arbeitsscheu und weigert sich konsequent, sich irgendeine Art von Ziel für sein Leben zu setzen. Er verharrt inständig in seinem Postkreis in Reykjavík, Nr. 101, und lebt von Sozialhilfe. Und Mama? Die lässt ihren Sohn in aller Toleranz gewähren, auch wenn sie ihn ab und zu auffordert, endlich mal zum Arbeitsamt zu gehen.
Hlynur verbringt seine Zeit, mehr gelangweilt, in Kneipen, einer Anmache-Disko, in der Drogen und Sex das wichtigste sind, sitzt vor dem Computer, beschwert sich, dass morgens, wenn er aufsteht (also mittags), keine Pornos im Fernsehen laufen und hat eine Freundin, Hofi (þrúður Vilhjálmsdóttir), die für ihn eher eine Nicht-Freundin ist. Sex ist Hlynur sowohl gleichgültig wie nicht gleichgültig – egal!
Doch eines Tages ändert sich für Hlynur alles: die spanische Flamenco-Lehrerin Lola Milagros (Victoria Abril), bei der Mama Berglind Unterricht nimmt, kommt zu Besuch. Während Berglind ihre Mutter für ein paar Tage besucht, versucht Hlynur sich – mehr unbeholfen – an Lola heranzumachen. Nach einer durchzechten Nacht – beide sind stockbesoffen – schlafen Lola und Hlynur miteinander. Doch mit einem hat Hlynur nicht gerechnet: Lola ist eigentlich lesbisch, und Berglind outet sich ihrem Sohn nach ihrer Rückkehr: Sie ist Lolas lesbische Freundin und beide wollen ein Kind. Hlynur kann es nicht fassen...
Der nach einem in Island populären Roman gedrehte Film ist sicherlich eine der besten Komödien des Kinojahres 2002. Kormákur – Schauspieler (hier in der Rolle des Thröstur), Regisseur und Drehbuchautor – treibt die Figur des Hlynur einsam auf die Spitze der Übertreibung und des Humors, ohne in Klamauk oder unrealistische Abgründe zu verfallen. Die Dialoge sind spritzig und witzig, vor allem wenn Hlynurs eigene Logik zur Sprache kommt. So antwortet er seiner Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt auf die Frage, was er denn werden wolle: Er wisse nicht genau, ob er nun Vater, Onkel oder Bruder des Kindes werde, das Lola bekomme; er verwickelt die konsternierte und leicht entsetzte Dame in ein Gespräch über die Beziehung seiner Mutter – und bekommt einen Stempel, damit sie endlich wieder ihre Ruhe vor diesem Kerl hat. Als Lola ihn fragt, was er in seinem Leben so tue, lautet seine Antwort: „Nothing“. „What kind of nothing?“ „The nothing kind of nothing.“
Hlynur, ein wahrer Nichtstuer, der einfach nur lebt, wie man so schön sagt: in den Tag hinein, seinen Postbezirk, wenn es irgend geht, nicht verlässt, kommt mit dem anderen Geschlecht nicht zu Rande. Warum auch? Weil er dazu unfähig ist, sieht er einem Pärchen beim Sex während einer der Sex & Drugs-Parties zu und gibt seine zynischen Kommentare dazu ab – bis die Frau genervt aufgibt. Als seine Mutter ihn zwingt, Weihnachten wie jedes Jahr bei den Verwandten zu verbringen, entwickelt der Nesthocker tödliche Phantasien: Er reißt eine Schusswaffe von der Wand und knallt die ganze Mischpoke ab, in der jedes Jahr die gleichen langweiligen Gespräche geführt werde. Aber das bleibt Phantasie.
Kormákur gewährt uns nicht nur satirische, skurrile Einblicke in den isländischen Alltag, sondern entwickelt einen Anti-Helden und seine soziale Verweigerungsstrategie mit köstlichem schwarzem Humor. Vor allem aber weist er seinem Hlynur einen Weg, den weder der sich ausgesucht, noch jemand anders bewusst für ihn ausgewählt hat: Ausgerechnet die lesbische Beziehung zwischen seiner Mutter und Lola haut unseren Anti-Helden aus seinem Alltagstrott. Kormákur spielt mit Geschlechterrollen, nimmt den leichten Ödipus-Komplex Hlynurs ordentlich auf die Schippe, und wirbelt das Thema Sex ebenso drastisch durcheinander, so dass Hlynur regelrecht aus der Fassung gerät. Und das ist gut so, wie das Ende des Films auf ebenso überzeugende Art beweist.
Damon Albarn (Leadsänger der britischen Band „Blur“) und Einar Ørn Benediktsson (Gründer der populären isländischen Band „Sugarcubes“) haben für den Film einen Soundtrack zusammengestellt, der sich nahtlos in die Handlung einfügt, vor allem ihre Version des alten „Kinks“-Hits „Lola“.
Hilmir Snaer Guðnason ist die Entdeckung des Filmjahres. Er spielt glaubhaft und ist köstlich anzusehen, z.B. in der Szene, als ihm seine Mutter und Lola offenbaren, dass sich Lola hat schwängern lassen. Guðnason spielt in dieser Szene mit spärlichen Worten und viel Mimik, die alles sagt. Er mimt Hlynur als sympathischen Anti-Helden, an dessen Denken und Verhalten man manchmal verzweifeln könnte. Doch die Penetranz zu bleiben, wie er ist, und seine Reaktionen auf die Veränderungen, die mit der Offenbarung der lesbischen Beziehung seiner Mutter beginnen, kann Guðnason so humorvoll darstellen, dass der Anti-Held zum sanften Helden wird.
Victoria Abril – in etlichen Filmen Almodóvars zu sehen („Fessle mich“, 1989; „High Heels“, 1991; „Kika“, 1993) – ist die feurige, schrille Spanierin, die im kalten Island nicht zu Eis erstarrt, spritzig, lebendig, lebensfroh – eine Wohltat für die Augen des Publikums.
María Karlsdóttir als Berglind überzeugt sowohl als sich kümmernde Mutter für einen 28-Jährigen, dem sie noch Unterhosen kauft und gewähren lässt, wie auch als zu ihrer Beziehung mit Lola entschlossene Liebende, die Hlynurs Leben schon immer durcheinander gebracht hat.
Auch die Rolle der Hofi, Hlynurs „Halbfreundin“,ist mit þrúður Vilhjálmsdóttir grandios besetzt.
Auf fast sanfte, manchmal aber auch durchaus aggressive Art führt Kormákur das Innenleben seiner Figuren vor. Der Vergleich mit Almodóvar ist vielleicht insoweit angebracht, als „101 Reykjavík“ manchmal so schrill und skurril daher kommt wie die frühen Filme des spanischen Regisseurs. Jedenfalls ist der Film eine freche, bunt schillernde und äußerst humorvolle Komödie, die nie den Boden unter den Füßen verliert oder unrealistisch wird. Für Liebhaber dieser Art von Komödie, die sich weit, weit entfernt vom Hollywood-Mainstream bewegt, ein Muss und meinem Eindruck nach besser als der vielleicht vergleichbare Film „Tanguy – Der Nesthocker“, der gleichzeitig in den Kinos lief.