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    September 5 - The Day Terror Went Live
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    September 5 - The Day Terror Went Live

    Die Geburtsstunde des Live-Terrorismus

    Von Christoph Petersen

    Viele wissen noch immer ganz genau, was sie gerade gemacht haben, als sie die Nachricht vom ersten Flugzeugcrash ins World Trade Center erreichte. Ab dem Moment war klar, dass man den Rest des Tages vor dem Fernseher verbringen würde, um mit den minütlich neu einprasselnden Informationen versorgt zu werden: Jeder (Nachrichten-)Sender unterbrach sofort das reguläre Programm, um stattdessen aus New York zu berichten – und so wurde der Einschlag des zweiten Flugzeugs bereits live vor einem Millionenpublikum gesendet. Doch der erste terroristische Akt, der live im Fernsehen übertragen wurde, ereignete sich nicht am 11. September 2021 in Manhatten, sondern bereits am 5. September 1972 in München, als palästinensische Terroristen elf Mitglieder des israelischen Olympiateams ermordeten.

    Die Tragödie von München wurde schon oft filmisch aufgearbeitet, am bekanntesten sicherlich in Steven Spielbergs „München“. Nun greift der Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum („Hell“, „Tides“) das Thema erneut auf – jedoch aus einer gänzlich anderen Perspektive: „September 5“ spielt fast ausschließlich im Münchner Sendezentrum des US-Kanals ABC, in dem die eigentlich auf Sportübertragungen spezialisierten Verantwortlichen plötzlich mit der Möglichkeit konfrontiert werden, die terroristische Geiselnahme live auszustrahlen. Schließlich findet sie ja quasi auf der anderen Straßenseite statt, man müsste nur eine Kamera aus dem Studio draußen vor die Tür rollen.

    Produzent Roone Arledge (Peter Sarsgaard) schwört sein Team auf die bevorstehenden schwierigen Stunden ein. Constantin Film Verleih
    Produzent Roone Arledge (Peter Sarsgaard) schwört sein Team auf die bevorstehenden schwierigen Stunden ein.

    Als gegen 4.30 Uhr deutscher Zeit die ersten Schüsse fallen, befindet sich nur ein Kernteam im Studio. Aber als die zunächst noch spärlichen Informationen zu den möglichen Hintergründen eintrudeln, werden sofort alle verfügbaren Kräfte – inklusive des verantwortlichen Produzenten Roone Arledge (Peter Sarsgaard) – zurückgerufen. Man braucht Fakten und – im TV-Geschäft fast noch wichtiger – die dazu passenden Bilder. Die Flure werden zunehmend wuseliger, Leute sprechen schnell und treffen wichtige Entscheidungen im Bruchteil einer Sekunde. Immer wieder eilen Techniker, Journalisten und Senderverantwortliche forsch die Gänge entlang, gefolgt von der Kamera ganz nah an ihrem Hinterkopf. Der Inszenierungsstil von „September 5“ erinnert unweigerlich an die Arbeiten von Aaron Sorkin, in dessen Jahrhundertserie „The West Wing“ regelmäßig die Geschicke der ganzen Welt beim Schreiten durch die Flure des Weißen Hauses verhandelt wurden.

    Besonders berühmt ist der Oscarpreisträger für seine hochtourigen Dialoge in Filmen wie „The Social Network“ oder „Steve Jobs“, die zwar bis obenhin mit exzellent recherchierten Informationen vollgestopft sind, sich aber dennoch jederzeit absolut natürlich anfühlen. Das ist dem auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnenden Tim Fehlbaum und seinem Co-Autor Moritz Binder zwar nicht ganz so elegant gelungen, gerade einige Beiträge der deutschen Übersetzerin Marianne („Das Lehrerzimmer“-Shooting-Star Leonie Benesch) sind nur minimal kaschierte Informationshaufen fürs Kinopublikum. Aber der für Sorkin ebenfalls typische treibende Sog, wenn fähige Menschen unter absolutem Hochdruck bestmöglich ihren Job zu erledigen versuchen, stellt sich auch in „September 5“ von den ersten Bildern an ein.

    Als noch nicht alles nur auf Knopfdruck ging

    Besonders faszinierend ist die Darstellung des historischen TV-Equipments. Denn dieses hat im Film nicht nur nostalgischen Wert, sondern unterstreicht die Herausforderungen der Live-Berichterstattung: Nur mit den gewaltigen Studio-Kameras konnte tatsächlich live gesendet werden – ansonsten wurde auf 16mm-Material gedreht, das vor der Ausstrahlung noch entwickelt werden musste. Selbst einfache Texteinblendungen, die heute auf Knopfdruck am Computer generiert werden, erforderten eine aufwändige manuelle Vorbereitung: Sie wurden damals von Hand aus Plastikbuchstaben wie bei einem Kinderspielzeug zusammengesetzt, um sie dann vor einem schwarzen Hintergrund (der damalige Green Screen) abfilmen zu können. Von der limitierten Satelliten-Verfügbarkeit mal ganz zu schweigen: Damals mussten US-Sender noch untereinander verhandeln, wer zu welcher Zeit sein Programm ausstrahlen darf – und zwar selbst dann, wenn man gerade live von einer Geiselnahme von weltgeschichtlichem Rang berichtet.

    „September 5“ lässt dabei – völlig zu Recht – keinen Zweifel daran, wie sehr sich die überforderten deutschen Behörden mit ihrem unkoordinierten, oft sogar geradeheraus unfähigen Vorgehen gegen die Terroristen blamiert haben: Die lokalen Beamten mussten sich von der Armee (die aus grundgesetzlichen Gründen selbst nicht eingreifen durfte) nicht nur Scharfschützengewehre ausleihen, sie mussten sich auch erst mal zeigen lassen, wie man diese überhaupt bedient. Später ist der bundesdeutsche Regierungssprecher Konrad Ahlers live im US-Fernsehen aufgetreten, um dort – fälschlicherweise (!) – die gelungene Befreiung aller Geiseln bekanntzugeben.

    Die Übersetzerin Marianne (Leonie Benesch) erweist sich für die ABC-Journalist*innen immer wieder von unschätzbarem Wert. Constantin Film Verleih
    Die Übersetzerin Marianne (Leonie Benesch) erweist sich für die ABC-Journalist*innen immer wieder von unschätzbarem Wert.

    Allerdings macht es sich „September 5“ etwas leicht damit, das Totalversagen der Polizei zu nutzen, um die Medien von ihrer (Mit-)Verantwortung weitestgehend zu entbinden. Die ABC-Berichterstattung wurde auch von den Terroristen selbst im Olympischen Dorf empfangen – und so konnten die schwerbewaffneten Kämpfer live mitverfolgen, wie sich die deutschen Polizisten draußen für eine Stürmung in Stellung brachten. Sicherlich wäre es die Verantwortung der Polizei gewesen, vorher den Strom zu den zwei Wohnungen zu kappen. Aber die ABC-Journalist*innen haben sich eben auch über direkte Anweisungen der Behörden zum Verlassen des Bereichs hinweggesetzt und zudem unerlaubt den Polizeifunk abgehört.

    All diese Fragen nach der moralischen Ebene werden in „September 5“ durchaus gestellt. Es wird nichts verschwiegen - so etwa auch die Entscheidung, ob man eine potenzielle Hinrichtung der Geiseln zeigen darf, wenn in den USA womöglich die Eltern der Opfer gerade vor dem Fernseher sitzen. Aber die Antwort fällt am Ende zu einseitig aus, da hätte man mehr Ambivalenzen bis zum Abspann und darüber hinaus ruhig aushalten dürfen. Ein Stück weit ist „September 5“ auch eine Heldengeschichte über die hart arbeitenden, clever improvisierenden Menschen hinter einem monumentalen TV-Ereignis mit Einschaltquoten im Mondlandungs-Bereich – nur geben das die historischen Geschehnisse in dieser Eindeutigkeit womöglich gar nicht her.

    Fazit: Ein intensiv verdichteter, stark gespielter Journalismus-Thriller, bei dem die aus heutiger Sicht fast schon steinzeitlich anmutende Fernsehtechnik der Siebzigerjahre maßgeblich zum Appeal beiträgt. Die auf der Hand liegende Frage nach der (unfreiwilligen) Komplizenschaft von Medien und Terror wird dabei zwar gestellt, aber nur oberflächlich weiterverfolgt.

    Wir haben „September 5“ im Rahmen des Venedig Filmfestival 2024 gesehen.

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