Die launige Aufarbeitung eines der größten Pop-Skandale aller Zeiten!
Von Oliver KubeDie Geschichte der Popmusik ist voll von sogenannten Über-Nacht-Erfolgen – also Künstler*innen, die sich mit dem richtigen Song zur richtigen Zeit wie aus dem Nichts in schwindelerregende Höhen der Charts-Landschaft aufschwangen. Einige konnten sich nach ihrem Durchbruch sogar länger dort halten – für die meisten aber ging es ebenso rasant wieder bergab. Bei kaum einem anderen Act gestaltete sich der Abstieg allerdings dermaßen spektakulär und krachend wie beim deutsch-französischen Duo Milli Vanilli.
Simon Verhoeven, Regisseur deutscher Komödien-Hits wie „Männerherzen“, „Willkommen bei den Hartmanns“ und „Nightlife“, hat die unglaubliche, aber wahre Geschichte der einstigen Megastars in seinem turbulenten Biopic „Girl You Know It‘s True“ aufgearbeitet: Der nach Milli Vanillis Debüt-Hit benannte Film fällt oft absurd-witzig, an den richtigen Stellen aber auch emotional berührend aus – und ist vor allem dank eines furiosen Auftritts von Matthias Schweighöfer („Army Of The Dead“) sehenswert.
Fab (Elan Ben Ali) und Rob (Tijan Njie) mutieren über Nacht zu weltweiten Megastars – lassen sich den plötzlichen Erfolg aber auch ganz schön zu Kopf steigen.
Ende der 1980er kommt Fabrice „Fab“ Morvan (Elan Ben Ali) aus seiner französischen Heimat nach München – hier will er als Model und Tänzer zum Star zu werden. Aber zunächst reicht es nur zu schlecht bezahlte Jobs als Go-Go-Animateur in der Schickeria-Disco P1 oder als Hintergrundtänzer bei TV-Sendungen wie „Formel Eins“. Sein Glück wendet sich erst, als er den lokalen Breakdancer Rob Pilatus (Tijan Njie) kennenlernt. Die beiden freunden sich an und werden wenig später von Frank Farian (Matthias Schweighöfer) entdeckt. Der Musikproduzent will nach dem Megaerfolg mit Boney M ein neues Projekt starten, für das er noch zwei passende Gesichter braucht. Denn die wahren Interpreten der bereits produzierten Songs, zu denen auch er selbst zählt, sind ihm viel zu alt und/oder pummelig, um die Jugend zu begeistern.
Also verpflichtet Farian das Duo, um für das Single-Cover zu posieren, im Videoclip zu tanzen und im TV zum Text die Lippen zu bewegen: Milli Vanilli sind geboren! Als gleich die erste Single weltweit die Charts stürmt, werden Fab und Rob zu globalen Superstars, denen der Ruhm allerdings schnell zu Kopf steigt. Dass die beiden nicht singen können, ist egal, denn Farian & Co. produzieren fleißig weitere Nummer-eins-Hits für sie. Die ahnungslosen Medien lieben die Jungs derweil fast so innig wie ihre Millionen Fans. Als sich bei einem „Live“-Auftritt jedoch das Playback-Band verhakt, beginnt das Kartenhaus einzustürzen…
Oberflächlich betrachtet ist Frank Farian der große Bösewicht dieser unterhaltsam und über weite Strecken mit viel Witz und Augenzwinkern erzählten Geschichte. Schließlich war er es, der die Karriere seiner Stars mit einer in New York einberufenen Pressekonferenz den finalen Todesstoß versetzte. „Girl You Know It‘s True“ schafft es jedoch, die Figur deutlich vielschichtiger zu zeichnen – hier schimmert durch, dass es ihm primär eben vor allem um seine Musik ging. Das reale Pop-Genie hat im Laufe seiner mehr als sechs Dekaden umspannenden und noch immer andauernden Karriere weltweit mehr als 850 Millionen Platten verkauft und über 800 Gold- beziehungsweise Platin-Auszeichnungen eingeheimst.
Matthias Schweighöfer verkörpert Farian als leidenschaftlichen Musiker und als clever-zynischen Geschäftsmann. Gerüchte besagten damals, dass er die technische Panne auf der Bühne, die zum jähen Ende des Erfolgsduos führte, selbst inszeniert haben soll. Das stimmt nicht und wird im Film dankenswerter Weise auch nicht so dargestellt. Korrekt ist, dass er den Zwischenfall tatsächlich nutzte, um die zu diesem Zeitpunkt in Richtung Größenwahn davonschwirrenden Frontmänner eiskalt abzuservieren.
Matthias Schweighöfer brilliert als Graue Eminenz im Hintergrund!
Simon Verhoeven legt sowohl in seinem Skript als auch bei der Inszenierung ein hohes, aber dennoch niemals gehetzt wirkendes Tempo vor: Dabei wird gut vermittelt, wie schnell und wie sehr die Jungs im Rausch ihres plötzlichen Ruhms irgendwann dem eigenen Hype verfielen. Sie fühlten sich offenbar wie Könige und benahmen sich auch so – eine gigantische Villa in Kalifornien, teure Sportwagen und an „Scarface“ gemahnenden Kokskonsum inklusive. Die lächerlich anmutende Selbstüberschätzung des Duos ging letztlich so weit, dass sie in Interviews behaupteten, für die Musik-Geschichte so wichtig zu sein wie die Beatles, Elvis Presley oder Bob Dylan, wahrscheinlich sogar noch wichtiger. Alles andere als ein krachender Absturz wäre danach nicht nur unwahrscheinlich, es wäre unmöglich gewesen. All das stellt „Girl You Know It‘s True“ glaubhaft und zudem extrem kurzweilig dar.
Visuell kann der Film ebenso überzeugen und es ist offensichtlich, dass hier einiges an Geld in die Hand genommen worden sein muss. So wird mit dem Kontrast zwischen dem provinziellen Bayern (wo Farian die Musik aufnahm) und dem glamourösen Hollywood (wo sie dann verkauft wurde und wohin die beiden „Helden“ flugs umsiedelten, als sich der erste Erfolg zeigte) immer wieder ebenso geschickt wie augenzwinkernd gespiegelt. Die Auftritte vor riesigen Menschenmassen auf dem Höhepunkt ihrer Popularität fühlen sich auf einer großen Leinwand dank gelungener CGI jederzeit echt an. Es sieht tatsächlich aus, als ob Milli Vanilli in gigantischen Hallen und Amphitheatern vor zehntausenden Menschen stehen. Obendrein wurden die für den durchschlagenden Erfolg des Projekts so entscheidenden, hier in Ausschnitten gezeigten MTV-Videos erstaunlich originalgetreu, sprich aufwändig nachgestellt.
Milli Vanilli genießt das Luxusleben in Hollywood – aber die wahren Interpreten ihrer Songs sitzen in der deutschen Provinz.
Dass die Story fast durchgehend aus der Sicht der beiden Tänzer – inklusive des an Meta-Satiren wie „The Big Short“ gemahnenden Durchbrechens der Vierten Wand – erzählt wird, stellt sich schnell als gute Idee heraus. Ist das Publikum so doch von Anfang an emotional nah an Rob und Fab dran. Hilfreich dabei sind natürlich auch die überzeugenden Darsteller Elan Ben Ali und Tijan Njie, die längst nicht nur die Dance Moves nahezu perfekt kopieren. Dazu kommen noch spaßige Nebenfiguren wie der von Michael Maertens verkörperte dummdreiste Plattenfirmenboss, Graham Rogers als Milli Vanillis „Kindermädchen“ in den USA oder Bella Dayne, die als Farians Assistentin und Lebensgefährtin sowas wie das schlagende Herz von „Girl You Know It’s True“ ist. Trotzdem ist es Matthias Schweighöfer, der hier klar das schauspielerische Highlight des Films liefert. Viele seiner bisherigen Kritiker*innen, zu denen auch der Autor dieser Zeilen zu zählen ist, werden nach dem Genuss seiner Performance einräumen müssen, dass der oft allzu manieriert agierende Star in diesem Falle einen großartigen Job macht.
Schweighöfer geht mit so viel Enthusiasmus und Freude, aber auch mit erstaunlich glaubhaft düsterer Energie zur Sache, dass man ihm jeden dieser Momente komplett abkauft. Er schafft es, den im wahren Leben fast ausschließlich als graue Eminenz im Hintergrund agierenden Farian auf der Leinwand zu einem lebendigen, emotional greifbaren und dabei enorm menschlichen Charakter wachsen zu lassen. Bei so viel Authentizität ist es völlig okay, dass Verhoeven sich und seinem Publikum ein Finale gönnt, das versöhnlich stimmt und dabei geradezu positiv daherkommt. Und das, obwohl der Karriere-Crash von Milli Vanilli eigentlich ein sehr trauriges Ende nimmt, das vom Film auch gar nicht verschwiegen wird. Dennoch dürften die Zuschauer*innen dank dieses dazu gedichteten Epilogs den Kinosaal mit einem Lächeln im Gesicht verlassen – eine Reaktion, die der durchweg launige Film sich auch redlich verdient hat.
Fazit: Ein visuell beeindruckendes, enorm unterhaltsames und streckenweise sogar richtig witziges Biopic über die „Schuldigen“ in einem der größten Skandale in der Geschichte der Popmusik. Matthias Schweighöfer ist sensationell gut als stimmige Melange aus Genie und Teufel.
PS: Um dem immer mal wieder vorgebrachten „Vorurteil vom lahmen deutschen Film“ etwas entgegenzusetzen, hat sich die FILMSTARTS-Redaktion dazu entschieden, die Initiative „Deutsches Kino ist (doch) geil!“ zu starten: Jeden Monat wählen wir einen deutschen Film aus, der uns besonders gut gefallen, inspiriert oder fasziniert hat, um den Kinostart – unabhängig von seiner Größe – redaktionell wie einen Blockbuster zu begleiten (also mit einer Mehrzahl von Artikeln, einer eigenen Podcast-Episode und so weiter). „Girl You Know It’s True“ ist unsere Wahl für den Dezember 2023.