Nicht das nächste "Roma"
Von Björn BecherNach mehreren Megahits in den USA konnte „Gravity“-Mastermind Alfonso Cuarón mit dem Geld von Streamingdienst Netflix endlich wieder ein Herzensprojekt in seiner Heimat Mexiko realisieren. „Roma“ feierte dann 2018 bei den Filmfestspielen von Venedig seine Premiere und avancierte zum großen Prestigeprojekt bei den Oscars. Nun wiederholt sich die Geschichte mit Cuaróns gutem Kumpel Alejandro G. Iñárritu, der nach den zwei Regie-Oscar-Siegen für „Birdman“ und „The Revenant“ ebenfalls mit der finanziellen Unterstützung von Netflix wieder in seiner mexikanischen Heimat dreht. Auch „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ feiert in Venedig seine Premiere als Auftakt einer sicherlich groß angelegten Oscar-Kampagne (Netflix zeigt den Film dafür sogar einen Monat lang im Kino, bevor er auf der eigenen Plattform landet).
Aber so viele – oberflächliche – Gemeinsamkeiten es zwischen „Roma“ und „Bardo“ auch gibt, so unterschiedlich sind die beiden Projekte in Wahrheit: Cuarón setzt sich im Drama „Roma“ intensiv mit seiner eigenen Kindheit in Mexiko auseinander – und setzt seiner Heimat dabei ein filmisches Denkmal in gestochen scharfen Schwarz-Weiß-Bildern. Iñárritu hat für „Bardo“ zwar auch auf persönliche Erlebnisse zurückgegriffen, weist ansonsten aber autobiografische Lesungen weit von sich – obwohl die Hauptfigur nicht nur optisch sein Alter Ego zu sein scheint. Im Ergebnis ist „Bardo“ eine Tragikomödie, in der Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerungen und Träume, persönliche Aufarbeitung und politischer Kommentar zunehmend miteinander verschwimmen. Das ist total absurd, (überflüssig) überlang und trotzdem ein ziemlich großartiger surrealer Bilderrausch, der erst nach und nach seinen berührenden Kern offenbart.
In wenigen Tagen soll dem renommierten Dokumentarfilmer Silverio Gama (Daniel Giménez Cacho) als erstem Mexikaner einer der renommiertesten US-Preise für Journalisten verliehen werden. Die Tage davor verbringt der eigentlich seit über einem Jahrzehnt in Los Angeles lebende Silverio mit seiner nach und nach eintreffenden Familie in ihrer alten Wohnung in Mexiko-Stadt. Dort vermischen sich schon bald die Erinnerungen an seine mexikanische Zeit sowohl mit seinen Träumen wie auch mit den Bildern seines jüngsten Filmprojekts, für welches er fiktive Interviews mit längst toten historischen Figuren geführt hat. Dabei setzt sich Silverio so intensiv wie noch nie mit seiner Geschichte und der seines Landes auseinander, er hinterfragt voller Selbstzweifel seinen Erfolg – und seine Sterblichkeit…
„Bardo“ fängt dabei nicht etwa langsam an, sondern legt direkt zum Auftakt den Surrealismus-Schleudergang ein: Just nachdem Silverios Frau Lucia (Griselda Siciliani) das erste gemeinsame Kind zur Welt gebracht hat, eröffnen ihr die Ärzt*innen, dass der Kleine wieder zurück in den Mutterleib will, weil ihm diese Welt dann doch schlicht „zu abgefuckt“ sei. Also wird das Baby kurzerhand wieder reingeschoben und das Ehepaar geht nach Hause – auch wenn die noch raushängende blutige Nabelschnur dabei noch ein gewisses Hindernis darstellt.
Es ist eine Szene, die genauso für Lacher sorgt, wie der später beim Oralsex noch mal kurz rausploppende Kopf des Babys. Doch wie hinter jeder Szene in „Bardo“ steckt auch hier eine zweite Ebene und es wird sehr schnell klar, für welchen tragischen Schicksalsschlag im Leben von Silverio und seiner Familie dieses von ihm entworfene Bild des erstgeborenen Sohnes, der einfach nicht auf diese Welt kommen wollte, steht.
Iñárritu wechselt so fließend zwischen den verschiedensten Ebenen, dass wir nur selten wissen, ob wir Silverio gerade in der Gegenwart erleben, tief in seine Erinnerungen hineintauchen, seinem jüngsten Film oder einem seiner Träume beiwohnen (sogar Träume im Traum gibt es, ganz ohne ein umfassendes Regelwerk wie in „Inception“). Und oft mischen sich selbst innerhalb einer einzelnen Szene die Ebenen noch. Dass Online-Versandhändler Amazon in Abstimmung mit der US-Regierung einen Teil von Mexiko kaufen will, um so die US-Grenze weiter nach Süden zu verschieben, kann folglich genauso Teil von Silverios Experimentaldokumentation wie der eigentlichen Haupterzählung sein.
Silverio (Daniel Giménez Cacho) wandelt nicht nur zwischen Traum und Realität, sondern ist meist in beidem gleichzeitig unterwegs.
Auch wenn sich vieles wie die Baby-Szene oder eine Begegnung mit einer aus der Zeit gefallenen erotischen TV-Tänzerin nach und nach auflöst, ist es meist völlig egal, was zu welcher Ebene gehört. „Bardo“ ist nämlich gerade kein Film, der zur Entschlüsselung einlädt, sondern sein Publikum viel mehr auf eine berauschende Reise mitnimmt. In einem unnötigen Meta-Moment beschwert sich eine Figur über die ausufernde Länge der Filme von Iñárritus Alter Ego Silverio – und tatsächlich wird auch hier vielleicht die eine oder andere Abzweigung zu viel genommen, aber insgesamt ist es ein so noch nie gesehener Trip, auf den man den erneut auch technisch wieder extrem ambitionierten Regisseur nur zu gern begleitet.
„Bardo“ ist schließlich von der ersten bis zur letzten Sekunde ein Fest für die Sinne! Bei seiner ersten Zusammenarbeit mit Kameramann Darius Khondji („Der schwarze Diamant“, „Sieben“) liefert der Regisseur einen seiner visuell beeindruckendsten Filme ab. In einer der vielen Plansequenzen zitiert er zwar auch mal seinen „Birdman“-Auftakt, doch es ist hier kein unnötiges Protzen, sondern ein gut eingesetztes Mittel, um uns zu verdeutlichen, wie sich Traum und Erinnerung vermischen, während sich die Hauptfigur selbst irgendwie durch die verschiedenen Ebenen zu navigierten versucht.
Herausragend sind auch einige klug choreografierte, teilweise auch wunderbar skurril-überhöhte Massenszenen. Da liefern sich zum Beispiel in einer Nachstellung des mexikanisch-amerikanischen Krieges plötzlich Soldaten ein komplett blutleeres Gefecht. Und in der vielleicht besten Sequenz des Films durchbricht David Bowies „Let's Dance“ nur für die Hauptfigur eine rauschende mexikanische Party. Und während alle anderen weiter wild zu den bisher laufenden lateinamerikanischen Beats tanzen, ist Silverio plötzlich mittendrin in seinem ganz eigenen Rhythmus.
Bowies Worte „If you say hide, we'll hide, because my love for you, would break my heart in two“ leiten dann zur nächsten Sequenz über. In der begegnet ein grotesk-schlecht „verjüngter“ Silverio (= einfach weiter der alte grauhaarige Kopf auf dem Körper eines kleinen Kindes) noch einmal seinem toten Vater und erinnert sich, wie er sich in seinem Kinderzimmer immer in einem Bettenlager versteckte (und was er dort tat). Dieser Übergang ist einer von vielen Momenten, mit denen Iñárritu unterstreicht, wie viel Gefühl und wie viel gelebtes Drama hinter all den rauschhaft und oft amüsanten Bildern liegen.
Zwischen all dem Spektakel schält sich nach und nach nicht nur die zwiegespaltene Liebe des Filmemachers zu seiner Heimat Mexiko, sondern vor allem eine bewegende Familiengeschichte heraus. Die gemeinsamen Momente von Silverio mit seiner Tochter Camila (Ximena Lamadrid) und seinem Sohn Lorenzo (Iker Sanchez Solano) glühen regelrecht vor Wärme. Hier kommt Iñárritu dann doch noch mal seinem Kumpel Cuarón ganz nah – sicher nicht unbewusst, wo doch bekannt ist, dass beide gegenseitig ihre Drehbücher lesen und sich Tipps geben.
Im Finale von „Roma“ geht es an einen Strand, wohin Hausmädchen Cleo als Teil der Familie mitkommt (und so die Kinder vor dem Ertrinken retten kann). Auch in „Bardo“ geht es an einen Strand. Hier muss das Hausmädchen aufgrund der strengen Regeln der Luxusunterkunft allerdings draußenbleiben. Wer nun direkt damit rechnet, dass was Schlimmes passiert, ist schief gewickelt. So plump geht Iñárritu nicht vor. Aber die Szene wirkt denn wie ein Fanal zum ungemein berührenden Finale.
Fazit: Die fast drei Stunden von „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ haben sicherlich die ein oder andere Länge. Aber der zuerst skurril-komisch, dann immer tiefer berührende Bilderreigen ist trotzdem ein absurd-surreales, technisch extrem ambitioniertes Epos, wie man es garantiert noch nie gesehen hat und wie es mit seinem schieren visuellen Reichtum jede noch so große Leinwand sprengen könnte (selbst wenn die meisten Netflix-Abonnent*innen es wohl leider nur auf ihrem TV-Schirm sehen werden).
Wir haben „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ beim Filmfestival Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat. Diese Rezension bezieht sich deswegen auf die dort gezeigte Festivalfassung. Regisseur Alejandro G. Iñárritu hat diese anschließend für die Netflix-Veröffentlichung noch einmal überarbeitet und stark gekürzt.