"I have adventured it and found nothing but sugar and violence."
Spätestens nach „The Favourite“ hatte sich der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos als einer der interessantesten Regisseure der Branche etabliert. „The Lobster“ fand ich schon großartig und nun, im Jahre 2023, erschien sein neuster Film, fünf Jahre nach „The Favourite“: „Poor Things“. Das Ganze basiert auf dem gleichnamigen Buch von Alasdair Gray und ist eine vage, feministische Neuinterpretation des Klassikers von Mary Shelleys „Frankenstein“. Auch wenn ich mir kaum noch Trailer zu Filmen anschaue, so war ich doch von diesem extremst angetan. Selten war mein Interesse so hoch an einem neuen Kinofilm und selten wurden meine Erwartungen derart übertroffen. „Poor Things“ ist für mich mit „Past Lives“ der beste Film von 2023 und sicherlich ein Oscaranwärter (viele andere Preise konnte der Film schon gewinnen, darunter zwei Golde Globes). Doch was sind schon Preise und Auszeichnungen in diesen Tagen? Wichtig ist der Film an sich. „Poor Things“ ist ein wilder Ritt und selbst unter Lanthimos´ kuriosen Filmen ein besonderes Werk.
Der Arzt Dr. Godwin Baxter findet die Leiche einer schwangeren Frau. Das Baby ist jedoch lebendig und so beschließt Baxter das Gehirn des Neugeborenen in den Körper der Frau zu pflanzen. Er nennt seine Schöpfung Bella. Die Frau mit dem Verstand eines Babys beginnt sich zu entwickeln, entdeckt ihren Körper und will eines Tages die Welt bereisen. Der dubiose und reiche Duncan Wedderburn will Bella das Leben zeigen, hat dabei aber vor allem sexuelle Interessen…
Einen Film wie „Poor Things“ kann man schwer beschreiben. Es ist eins dieser Werke, das einen wortwörtlich erschlägt. Dabei ist es auch nicht einfach zu sagen, in welchem Genre sich das Ganze aufhält. Der Comedy-Aspekt ist groß, aber der Film hat vor allem auch Fantasy-Elemente, Teile eines Dramas und grotesken Horrorfilms. Der Film ist sehr explizit und das nicht nur in seiner Darstellung von Gewalt und Sex. Auch die Themen, die behandelt werden, sind alles andere als leichte Kost. Aber wie unterhaltsam ist das alles bitte gemacht?
Regisseur Lanthimos erschafft in „Poor Things“ eine einzigartige, abstrakte und dennoch im Realismus verankerte Welt. Es ist wie ein Märchen für Erwachsene mit skurrilen und manchmal grotesken, aber stets wunderschönen Bildern. Kameramann Robbie Ryan fängt diese fantastische Welt eindrucksvoll ein. Die unkonventionelle Kameraführung von ihm konnte man schon in „The Favourite“ bestaunen. Hier sticht vor allem die satte Farbpalette hervor und einige sehr kreative Special Effects. Und das alles passt vor allem ins Konzept der Story, die von Tony McNamara geschrieben wurde. Fun Fact: McNamara schrieb auch das Drehbuch zum furchtbaren „Cruella“, dem Disney-Remake/Reboot der „101 Dalmatiner“-Filme, ebenfalls ein Film mit Emma Stone in der Hauptrolle. Doch hier in „Poor Things“ erleben wir eine Story, die sich am Klassiker von „Frankenstein“ orientiert, aber das ganze Konzept auf den Kopf stellt. Der Werdegang von Bella ist unfassbar spannend und unterhaltsam. Die brillante Regie von Lanthimos lässt den Film trotz 141 Minuten niemals langweilig werden. Immer trifft Bella auf ein neues Hindernis/Abenteuer. Und durch ihre wilde Natur, sind viele der Szenen auch erfrischend witzig, dann aber auch wieder berührend poetisch und manchmal sogar schockierend. Doch die Hauptfigur bleibt immer sympathisch, was an ihrer unkonventionellen, ehrlich, direkten Art liegt. Dadurch, dass sie praktisch ein Kleinkind ist, das die Welt zum ersten Mal in ihrer Schönheit und Hässlichkeit erlebt, geht sie viel naiver und offener durch dieses Abenteuer und gerät immer wieder in Konflikt mit den „Gepflogenheiten“ der Gesellschaft.
Und dieses Erlebnis teilt der Zuschauer mit Bella. Wir freuen uns mit ihr und wir leiden mit ihr. Ironischerweise hat der Film erstaunlich viele Parallelen zum „Barbie“-Film aus demselben Jahr, in dem eine Plastikpuppe ein Gewissen entwickelt, die Welt entdecken möchte und auf ein Männerdominiertes Patriarchat trifft. Lanthimos schafft es aber diese feministische und großartige Message noch kraftvoller zu zeigen. Denn Bella sieht und bewertet selbst die verpöntesten Akte sehr sachlich und wägt dann ab, ob es was für sie ist.
Lanthimos verpackt das alles mit seiner besonderen Art in einen Film, der voll von absurden Momenten ist. Und doch hat mich das Geschehen gefesselt, beeindruckt und auch sprachlos gemacht. „Poor Things“ ist ein Film, den man auf den ersten Blick als Möchtegern-Artsy-Fartsy-Werk mit provokanten, voyeuristischen Sexszenen abstempeln könnte. Doch alles ist so akribisch inszeniert und es passiert gerade bei Bella so viel.
Kommen wir zum Cast, der durchweg fantastisch ist. Alle drei Hauptakteuere geben eine Oscar-würdige Performance. Emma Stone spielt hier eine ihrer interessantesten und mutigsten Rollen ihrer Karriere und dürfte die Trophäe sicherlich gewinnen. Willem Dafoe ist wie immer großartig und besonders Mark Ruffalo sticht hervor mit einer witzigen und zugleich widerwärtigen Figur, die viele der Szenen prägt. Es ist so schön ihn wieder in einer solch komplexen Rolle zu sehen, nachdem er Jahrelang nur im Marvel Universum unterwegs war.
Bis in die kleinste Rolle ist die schauspielerische Leistung stark, denn Regisseur Lanthimos weiß, wie er seine Darsteller einsetzt.
Kommen wir zum Schluss noch zur Musik von Jerskin Fendrix: Wie der Film ist der Score sehr überzogen und in vielen Teilen des Films avantgardistisch angelegt. Die Musik ist oftmals wild und unkontrolliert, genau wie das Wesen von Bella und das fand ich super. Auch hier merkt man, dass alles passt, das jede Entscheidung so getroffen wurde, dass sie der Story dient, fantastisch!
Fazit: „Poor Things“ ist ein Kino-Highlight und das nicht nur von 2023. Für mich ist dies einer der besten und eindrucksvollsten Filme der letzten Jahre und für mich steht fest: Giorgos Lanthimos ist einer der besten Regisseur unserer Zeit. Ich werde jeden Film von ihm sehen und bin schon jetzt gespannt auf sein nächstes Projekt. „Poor Things“ ist ein modernes Meisterwerk, das man erleben muss!