Yórgos Lánthimos fängt da an, wo "Barbie" aufgehört hat
Von Christoph PetersenIn der letzten Szene des megapopulären „Barbie“-Kinofilms wird die von Margot Robbie verkörperte Titelheldin in einer Frauenarztpraxis vorstellig: Offenbar ist für sie nach all den sexlosen Jahren mit Ken endlich der Zeitpunkt gekommen, sich eine Vagina zuzulegen – und wenn dann nach dem Ende des aktuell noch tobenden Hollywood-Doppelstreiks endlich die vom Studio herbeigesehnte Fortsetzung des Milliarden-Dollar-Hits in Angriff genommen werden kann, wäre es doch ein naheliegendes Plot-Element für „Barbie 2“, einfach mal auszuprobieren, was sich mit so einer Vagina alles anstellen lässt …
… und damit wären wir auch schon bei „Poor Things“ angekommen, nur das Emma Stone im neuen Film von Yórgos Lánthimos keine (feministische) Plastikpuppe, sondern eine (feministische) Abwandlung von Frankensteins Braut verkörpert: Angesiedelt in einer märchenhaften Steampunk-Welt, ist „Poor Things“ die bislang mit Abstand aufwendigste Produktion in der Karriere des griechischen Filmemachers, der mit seinem Durchbruchsfilm „Dogtooth“ einst die das Absurde aus dem Alltäglichen herauskitzelnde Greek New Wave angeschoben hat. Aber zumindest in Sachen beißend-trockenem Humor macht der „The Lobster“-Regisseur trotzdem genau da weiter, wo er zuletzt mit seiner zehnfach oscarnominierten Königshof-Groteske „The Favourite“ aufgehört hat.
Als Bella Baxter liefert Emma Stone eine brillante Tour-de-Force-Performance, die sich in fast jeder Szene weiterentwickelt – schlicht meisterhaft!
Der Londoner Medizinstudent Max McCandless (Ramy Youssef) erhält von seinem schrecklich entstellten Anatomie-Professor Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) einen ungewöhnlichen Forschungsauftrag: Im Heim des Professors lebt eine junge Frau namens Bella Baxter (Emma Stone), die zwar den Körper einer Erwachsenen hat, sich aber trotzdem wie ein Kleinkind benimmt, das gerade erst das Sprechen und Laufen erlernt. Max soll ihren Fortschritt genauestens protokollieren: Aktuell sind es ca. 15 neue Worte pro Tag. Es dauert ein wenig, aber dann kommt der Student doch hinter das Geheimnis seines Lehrmeisters:
Bella hat den Körper einer schwangeren Selbstmörderin, der von Godwin das Gehirn ihres eigenen ungeborenen Babys eingesetzt wurde! Um sein „Experiment“ auch nach dem langsamen Erwachen ihres Sexualtriebs weiterhin unter Kontrolle halten zu können, schlägt Godwin vor, dass Bella und Max doch heiraten sollten. Aber bevor es dazu kommt, will die offenbar auf Hochtouren pubertierende Bella erst noch etwas von der Welt sehen (und dabei möglichst viel Sex haben). Da kommt ihr der draufgängerische Ladies Man Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) gerade recht – und so geht es gemeinsam zunächst einmal nach Lissabon…
Weil sein eigener Vater an ihm allerlei medizinische Experimente durchgeführt hat, bräuchte der von seiner Ziehtochter nur God genannte Godwin Baxter heutzutage wohl die ganze elektrische Energie der Stadt, um noch einen hochzubekommen. Außerdem wurden ihm vom Papa jene Organe herausgeschnitten, die dazu nötig sind, Magensaft zu produzieren – einfach nur, um zu checken, ob man die wirklich braucht. Die überraschende Antwort: Ja. Und so steht in seinem Esszimmer nun ein schwer zu definierender, dampfbetriebener Apparat, an den sich der Professor vor dem Essen anschließen muss – und wenn er fertig ist, rülpst er nach einem lauten Grunzer stets eine große Blase aus seinem Mund.
„Poor Things“ ist voll von solchen amüsant-skurrilen bis geradeheraus bizarren Einfällen. Die anfänglichen Schwarz-Weiß-Szenen erinnern bisweilen an klassische Hammer-Horrorfilme – nur eben gebrochen durch die kleinkindhafte Unbedarftheit von Bella, die sich auch gar nicht daran stört, wenn God an Körpern seiner Versuchsobjekte herumschnippelt, solange sie nur selbst eine Leiche abbekommt, in deren Kopf sie mit einem Skalpell herumstochern kann. „Poor Things“ hat – wie schon „The Favourite“ – einen hochgradig morbiden, aber dennoch leichtfüßigen Humor! Und wenn dann die Farbe in die Bilder kommt, erweisen sich die verschiedenen Städte von Bellas Rundreise durch Europa als betont künstliche, fast schon theaterhafte Kulissen, die noch am ehesten an das Produktionsdesign der Filme von Wes Anderson („Grand Budapest Hotel“) erinnern.
Eine Frau mit dem Hirn eines Kleinkindes – da scheint Männern wie Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) voll einer abzugehen.
Müsste es dann eigentlich Frankenbarbie oder Barbenstein heißen? Egal, auf jeden Fall erkundet Bella wie Barbie in einem Zustand der totalen Offenheit bei gleichzeitiger totaler Naivität die Welt da draußen – und nimmt sich dabei, wie es sich für ein mucksches Kind gehört, einfach was sie will, ohne jedes Unrechtsgefühl oder schlechte Gewissen. Yórgos Lánthimos wandelt damit natürlich – wie von ihm kaum anders gewohnt – auf einem ganz schmalen Grat: „Poor Things“ ist voller Sex und Nacktheit, aber im erwachsenen Körper seiner Protagonistin steckt eben das Gehirn eines (Klein-)Kindes. Sie wirkt deshalb zumindest in der ersten Hälfte des Films, als hätte sie eine geistige Behinderung (was die Männern wiederum besonders sexy an ihr zu finden scheinen).
Aber bevor man sich darüber groß aufregen könnte, kugelt man sich wahrscheinlich eh schon vor Lachen auf dem Boden: Ja, „Poor Things“ ist ein intellektueller und kunstvoller Film, aber er ist zugleich auch urkomisch! Zumal es eben nicht auf dem Level bleibt, dass Bella mit ihrer Kleinkindsprache sexuelle Akte verniedlicht – sondern sich die Dinge auch ganz von allein gegen all jene richten, die sie auszunutzen versuchen: Bella nimmt sich, was sie will – und wenn sie genug hat, dann fliegt das Porzellan! All die Männer wollen sie am Ende doch nur für sich allein haben und sie deshalb am liebsten gleich einsperren – aber die titelgebenden „armen Dinger“ sind dann doch eher sie, wenn sie sich in ihrer besitzergreifenden Verliebtheit letztendlich doch nur der Lächerlichkeit preisgeben.
Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) hat nur seine Experimente im Kopf – und würde dafür wirklich alles opfern.
Der Beste darin ist ganz klar Mark Ruffalo („Avengers 4“), der sich im anstehenden Oscar-Rennen in der Kategorie Beste Nebenrolle einen harschen Schlagabtausch mit „Barbie“-Ken Ryan Gosling liefern dürfte – was auch deshalb so spannend ist, weil beide sehr ähnliche Rollen spielen, nur dass Ruffalo keine Musical-Nummern absolviert. Der MCU-Hulk ist als großkotziger Liebhaber überzeugend – aber als gleichermaßen verliebte wie beleidigte Leberwurst eine absolute Wucht. Und trotzdem wird auch seine Performance ebenso wie die von Willem Dafoe („Aquaman 2“) noch von der Leistung von Emma Stone („La La Land“) in den Schatten gestellt:
In den zwei Stunden und 20 Minuten von „Poor Things“ absolviert Bella eine geistige Entwicklung vom Kleinkind, das seine allerersten Worte lernt und beim Gehen schwankt, als wäre es bei einem Orkan auf hoher See unterwegs, hin zur belesenen jungen Frau, die in ihrem Pariser Bordell sozialistische Methoden einführen will – und zwar nicht in zwei, drei klar voneinander abtrennbaren Sprüngen, sondern konstant die gesamte Laufzeit hinüber. Das geschieht derart subtil, dass man es von Moment zu Moment überhaupt nicht merkt – und dann ist sie plötzlich doch schon erwachsen geworden… fast wie im echten Leben, aber auch wirklich nur fast.
Fazit: Yorgos Lanthimos‘ lustvoll-pervertiertes Steampunk-Update von Frankenstein begeistert – wie erwartet – mit prächtig-verqueren Sets und Kostümen sowie einer alles überstrahlenden Performance von Emma Stone, der ihr zweiter Oscar kaum noch zu nehmen sein wird. Was wir so allerdings nicht erwartet haben: In erster Linie ist „Poor Things“ eine wirklich urkomische Sex-Satire, die all das, was „Barbie“ vor wenigen Monaten angestoßen hat, noch viel, viel konsequenter (und lustiger) auf die Spitze treibt: Gnadenlos gut, gnadenlos feministisch – und dazu auch noch gnadenlos unterhaltsam!
Wir haben „Poor Things“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.