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    Weißes Rauschen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Weißes Rauschen

    Die ständige Angst vor dem Tod

    Von Christoph Petersen

    Nachdem er mit der Hilfe seines bereits mit Netflix verbandelten „The Meyerowitz Stories“-Hauptdarstellers Adam Sandler einen Fuß in die Tür bekommen hat, lieferte Noah Baumbach dem Streaming-Service mit „Marriage Story“ genau die Art von Film, die sich die Netflix-Verantwortlichen von ihm erhofft haben: Auf der einen Seite gab es massenhaft marketingwirksame Preise, darunter einen Oscar (für Nebendarstellerin Laura Dern) und vier weitere Nominierungen (etwa als Bester Film sowie für die Stars Adam Driver und Scarlett Johansson). Auf der anderen Seite ist das Scheidungsdrama aber auch derart berührend und universell zugänglich, dass es nicht nur Kritiker*innen und Cinephile, sondern auch die breite Streaming-Zuschauerschaft begeistern konnte.

    Mit diesem Rundum-Volltreffer im Rücken legt Baumbach nun einen Film nach, bei dem die Schere wieder deutlicher auseinandergehen dürfte. Schließlich hat sich der Regisseur und Autor für „Weißes Rauschen einen Stoff als Vorlage ausgesucht, der nicht von ungefähr als unverfilmbar galt – und der zwar eine Menge gerade jetzt hochaktueller Themen verhandelt, aber dabei bestimmt nicht immer leicht zu entschlüsseln ist. Don DeLillo erzählt in seinem 1985 veröffentlichten Roman anhand eines Hitlerstudien-Professors und seiner Familie von der omnipräsenten Todesangst der gehobenen amerikanischen Mittelschicht. Potenziell ganz schön harter Tobak, aber Adam Driver, Greta Gerwig & Co. haben eine wahnsinnig ansteckende Freude daran, die ständige Panik in Form einer beißenden Satire auf die Leinwand (bzw. den TV-Schirm) zu hieven.

    Jack Gladney (Adam Driver) und seine Familie werden durch einen gewaltigen Chemieunfall aufgeschreckt – aber wenn man ehrlich ist, war die Todesangst auch schon vorher da…

    Obwohl er nicht mal den Satz „Ich will Kartoffelsalat“ auf Deutsch richtig aussprechen kann, ist der Universitätsprofessor Jack Gladney (gewohnt grandios: Adam Driver) Mitte der Achtzigerjahre ein weltweit anerkannter Experte für Hitler, der von seinen Student*innen und Kolleg*innen gleichermaßen wie ein Rockstar gefeiert wird. Eigentlich gibt es für ihn also gar keinen Grund, sich großartig Sorgen zu machen – aber dann fängt seine Frau Babbette (Greta Gerwig) an, sich heimlich Pillen einzuschmeißen, deren Name nicht einmal ihrem Doktor bekannt ist.

    Doch damit nicht genug: Nach dem Zusammenprall eines Güterzuges mit einem Tanklaster braut sich eine gewaltige dunkelschwarze Wolke über der Gegend zusammen. Jack versucht so lange wie möglich, seine Familie mit rationalen Argumenten davon zu überzeugen, dass kein Anlass zur Sorge bestehe. Aber irgendwann setzt sich doch die schiere Panik durch – und während ständig (halb-)wahre und (halb-)falsche Fakten auf sie einprasseln, stürzt die Familie auf der Flucht von einer absurden Situation in die nächste…

    Autounfälle als Zeichen von Optimismus

    „Weißes Rauschen“ eröffnet mit einer Vorlesung von Murray Siskind (Don Cheadle), der sich nichts sehnlicher wünscht, als dass seine Elvis-Lesung mal so berühmt werden wie die Hitler-Studien seines Kollegen. Sein Vortrag besteht aus zusammengeschnittenen Autounfällen aus Hollywoodfilmen, zu denen er seinen Student*innen erklärt, dass man nur an dem ganzen Blut und dem gesplitterten Glas vorbeischauen müsse, um den tiefen Optimismus in diesen Szenen zu erkennen. Die Filmindustrien anderer Länder hätten zwar immer wieder versucht, diese Leichtigkeit zu kopieren, aber nur in Amerika würde es gelingen, derartigen Katastrophen mit einer solchen Freude zu begegnen.

    Natürlich kann man die eröffnende Vorlesung auch als Gebrauchsanweisung für den folgenden Film verstehen: Zwischen all der existenziellen Panik gibt es nämlich tatsächlich viel, was Freude machen kann. Wenn die Familie auf der Flucht vor der toxischen Chemie-Wolke mit dem Wagen in einen Fluss kracht und Jack völlig überfordert versucht, das treibende Auto mit dem Lenkrad zu steuern, bevor sie es mit einem riesigen Sprung wieder zurück auf die Straße schaffen, erinnert der absurde Roadtrip fast schon an die ur-amerikanischen Slapstick-Abenteuer der von Chevy Chase angeführten Familie Griswold (auf „Die schrillen Vier auf Achse“ von 1984 folgten drei Fortsetzung und ein Remake mit Chris Hemsworths Riesenpenis).

    In der tollsten Szene des Films halten Murray (Don Cheadle) und Jack eine gemeinsame Vorlesung über die „Mütterkinder“ Hitler und Elvis, die sich wie eine moderne Tanz-Performance entfaltet.

    „Weißes Rauschen“ ist eben kein klassisches Drama, sondern – in der Inszenierung und vor allem den Dialogen – jederzeit betont überhöht: Die Gespräche zwischen den Figuren bestehen fast nur aus intellektuell-feingeschliffenen Onelinern – fast so, als wären sie alle Teil einer ur-amerikanischen Sitcom, bei der jeder in der Familie ausschließlich mit philosophischen Bonmots und existenziellen Beobachtungen um sich schmeißt. Besonders treffend geraten diese im zweiten von insgesamt drei Kapiteln, in dem die Flucht vor der giftigen Wolke im Mittelpunkt steht. Der Umgang mit halbgaren, sich oft widersprechenden Fakten; der verzweifelte, aber am Ende fruchtlose Versuch, sich an die Rationalität zu klammern; die nachdrückliche Anklage, dass die eigene Angst mehr (mediale) Aufmerksamkeit verdient hätte: Auch wenn Don DeLillo seinen Roman bereits vor fast vier Dekaden veröffentlicht hat, kommt einem im Jahr 3 der Corona-Pandemie doch eine Menge davon (schmerzlich) bekannt vor.

    Aber zum Glück liefert Baumbach die Lösung für das Problem gleich mit – und die hat garantiert nichts mit der Kirche zu tun, in die Jack und Babbette den angeschossenen Lars Eidinger karren, um sich dann von einer desillusionierten deutschen Nonne (Barbara Sukowa) erklären zu lassen, dass sie schon längst aufgegeben hätte, „für die anderen zu glauben“. Stattdessen hat es schon seinen Grund, warum der Regisseur einen nicht kleinen Teil seines Budgets in das mega-aufwändige Set eines Achtzigerjahre-Supermarkts mitsamt all den Markenprodukten der damaligen Zeit gesteckt hat. Das bis auf einen komplett weißen Gang farbenfrohe Konsum-Paradies ist nämlich nicht nur der Hintergrund für eine ausufernde Musical-Einlage während des Abspanns, die vollen Supermarktregale sind bei DeLillo auch das die Religion und den Himmel ablösende Allheilmittel gegen die (unnötige) Todesangst der Mittelschicht. Ach Mist, Moment mal…

    Fazit: Eine zugleich bittere, aber auch verspielte Satire rund um die (irrationale) Angst vor dem Tod, die traditionell ja vor allem bei denjenigen am heftigsten um sich greift, die sich gerade gar keine machen müssten. Der ausgestellt clever-intellektuelle Gestus des Films wird aber sicher nicht jedem gefallen.

    Wir haben „Weißes Rauschen“ beim Filmfestival Venedig gesehen, wo er als Eröffnungsfilm sowie Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

     

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