Sie nannten ihn "Nobody"
Von Christoph PetersenIn Ilya Naishullers „Nobody“ spielt „Better Call Saul”-Anwalt Bob Odenkirk einen Familienvater mit dem wohl unspektakulärsten Alltag, den man sich nur vorstellen kann – bis sich eines Tages herausstellt, dass in dem unscheinbaren Buchhalter in Wahrheit eine perfekte Killermaschine schlummert, die nur darauf wartet, endlich wieder anspringen zu dürfen. Auch der Protagonist in „Old Henry“ wird von seinem Sohn auf Nachfrage ohne zu zögern als „Nobody“ beschrieben – und auch hier könnte die Beschreibung kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Die Antwort auf die Frage, wer der alte Farmer tatsächlich ist, erweist sich letztendlich sogar als spektakulärer als in „Nobody“. Aber davon abgesehen könnten die Filme trotzdem kaum verschiedener sein. Regisseur und Autor Potsy Ponciroli inszeniert „Old Henry“ nämlich selbst nach der Auflösung des zentralen Mysteriums nicht als freidrehende Action-Extravaganz, sondern ganz im Gegenteil als geradlinig-bodenständigen, mit bescheidenen Mitteln, aber viel Atmosphäre und starken Darstellern realisierten Spätwestern.
Henry (Tim Blake Nelson) ist nicht der abgehalfterte alte Farmer, für den ihn alle halten...
Oklahoma, 1906: Seit seine Frau vor zehn Jahren an Tuberkulose gestorben ist, lebt Henry (Tim Blake Nelson) allein mit seinem Teenager-Sohn Wyatt (Gavin Lewis) auf einer abgelegenen Schweinefarm. Weil sein Vater ihn streng pazifistisch erzogen hat, ist Wyatt der einzige Junge in seinem Alter in einem Umkreis von 50 Meilen, der noch nie eine Waffe abgefeuert hat. Allerdings macht ihn das eher sauer, weil Henry ihn seiner Meinung nach noch immer wie ein kleines Kind behandelt.
Eines Tages findet Henry den schwer verwundeten Curry (Scott Haze). Als er neben dem bewusstlosen Mann auch noch einen Revolver und eine Tasche voller Geldnoten entdeckt, will Henry erst wieder wegreiten – aber dann überlegt er es sich in letzter Sekunde doch anders und handelt sich damit eine Menge Ärger ein. Denn nun sind der sadistische Ketchum (Stephen Dorff) und seine Handlanger plötzlich auch hinter ihm her. Allerdings wird Ketchum schon beim ersten Aufeinandertreffen klar, dass Henry alles ist – aber ganz sicher kein herkömmlicher Farmer…
Wer heutzutage noch Western dreht, der braucht dafür eigentlich einen speziellen Kniff – und dann kommen auch ziemlich häufig tolle Filme wie „True Grit“, „Slow West“ oder „Meek’s Cutoff“ dabei heraus. Western ohne modernen Touch sind hingegen akut vom Aussterben bedroht – oder sie werden mit ein oder zwei abgehalfterten B-Stars auf dem Cover für einen VoD-Markt produziert, wo es kaum noch möglich ist, die wenigen annehmbaren Produktionen zwischen all dem runtergekurbelten Billig-Bullshit herauszufischen. Nun ist auch „Old Henry“ weder besonders teuer noch aufwendig …
… aber in seiner reduzierten Schlichtheit liefert er trotzdem ab: Ein paar Weizenfelder im Wind und Wiesen im Nebel – und fertig ist eine ungemütliche Atmosphäre, die durch all den Matsch auf der Farm noch weiter befeuert wird. Da passt es, dass den Säuen die Innereien ihrer geschlachteten Artgenossen zum Fressen vorgeworfen werden. Mittendrin ist Tim Blake Nelson („The Ballad Of Buster Scruggs“), der zwar einen Kopf kleiner und sehr viel schmächtiger ist als alle anderen, aber trotzdem die Leinwand dominiert. Ein Ausblick auf die ikonische Enthüllung, die dann im letzten Akt noch folgen wird.
Ansonsten passiert nur wenig. Henry, Wyatt und Curry verschanzen sich im Haus – Ketchum und seine Leute versuchen irgendwie hineinzukommen. Es ist das bekannte und westerntypische „Rio Bravo“-Szenario der kleinen Truppe da drinnen gegen die Übermacht da draußen. Die offenen Fragen, ob die Angreifer vielleicht doch wie behauptet Ordnungshüter sind und ob man Curry trauen sollte, taugen nicht wirklich zum Spannungsmotor. Stattdessen geht es vor allem darum, was genau passieren wird, wenn Henry irgendwann dann zwangsläufig doch wieder in die vermuteten alten Verhaltensmuster zurückfällt...
Die Antwort passt zum Rest des mit 99 Minuten knackig erzählten Western: Das Finale ist blutig und nicht zu lang ausgewalzt. Henry wendet seine Talente mit effizienter Kompromisslosigkeit an, mutiert deshalb aber auch nicht wie Bob Odenkirk in „Nobody“ plötzlich zum omnipotenten Supermann (selbst wenn seine Fähigkeit mitunter auch einfach nur darin zu bestehen scheint, dass ihn seine Gegenüber selbst dann nicht treffen, wenn sie nur wenige Meter von ihm entfernt stehen). Stattdessen gibt es einen Shootout ohne Übertreibungen. Potsy Ponciroli weiß, was er will und was er kann – und mit „Old Henry“ hat er seine bescheidenen Ziele voll erreicht.
Fazit: Ein bodenständiger, handwerklich, schauspielerisch und atmosphärisch starker Spätwestern für Fans, die gar nicht unbedingt wollen, dass das Genre mit jedem Film neuerfunden wird.
Wir haben „Old Henry“ beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als außer Konkurrenz als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.