Im Dornröschenschlaf
Von Ulf LepelmeierDiesmal ist es nicht die Spindel der bösen Hexe, sondern die unbarmherzige Bürokratie, die ein junges Mädchen in einen Dornröschenschlaf versetzt. Der Film „Quiet Life“ erzählt die Geschichte einer russischen Flüchtlingsfamilie, die sich in Schweden um ihre Aufenthaltserlaubnis bemüht. In seinem distanziert-kühlen Drama zeichnet der griechische Regisseur Alexandros Avranas („Miss Violence“) ein eindrucksvolles Bild des schwedischen Migrationssystems und beleuchtet dabei insbesondere das sogenannte Resignationssyndrom, das erstmals in den Neunzigerjahren dokumentiert wurde.
Betroffen sind vor allem psychisch traumatisierte Kinder aus osteuropäischen Ländern, die als Reaktion auf die Belastungen des Migrationsprozesses in einen komatösen Zustand verfallen. Ihre Genesung kann Monate oder gar Jahre dauern und soll überhaupt nur möglich sein, wenn das Gefühl von Sicherheit innerhalb der Familie wiederhergestellt wird. Doch wie soll dies gelingen, wenn eine Abschiebung droht? Mit einer entrückten Atmosphäre und einem überzeugenden Ensemble fängt „Quiet Life“ das verzweifelte Streben nach Normalität, Hoffnung und einem sicheren Leben ein.
Im Jahr 2018 fliehen Sergei (Grigory Dobrygin) und Natalia (Chulpan Khamatova) mit ihren beiden Töchtern Katja (Miroslava Pashutina) und Alina (Naomi Lamp) aus Russland, um in Schweden politisches Asyl zu beantragen. Doch trotz ihrer intensiven Bemühungen um Integration wird ihre Hoffnung auf eine sichere Zukunft jäh erschüttert, als ihr Antrag abgelehnt wird. Die schwedische Einwanderungsbehörde bemängelt, dass es keine Zeug*innen für einen angeblichen Anschlag auf den systemkritischen Vater gibt. Um ihre achtjährige Tochter zu schützen, hatten die Eltern auf eine Zeugenaussage von ihr verzichtet, doch nun sehen sie diese als letzte Chance, um eine Abschiebung zu verhindern. Als die traumatisierte Katja unter dem enormen Druck zusammenbricht und in einen Koma-ähnlichen Zustand verfällt, setzen Sergei und Natalia alles daran, die Genesung ihrer Tochter zu ermöglichen…
Alexandros Ayranas zeichnet das Leben einer Familie, die große Angst hat, in ihre Heimat zurückzukehren und sich daher umso mehr bemüht, alle bestehenden Regeln zu befolgen, sich anzupassen und alles zu tun, um sich in die schwedische Gesellschaft zu integrieren. Am Küchentisch überlegen sich die Familienmitglieder bereits schwedische Namen füreinander. Sie haben kein Problem damit, sich zu assimilieren. Doch trotz ihrer vorbildlichen Bemühungen, das titelgebende „ruhige Leben“ zu führen und sich dem System zu unterwerfen, wird ihr Asylantrag abgelehnt. Angesichts ihrer offensichtlichen Integrationsanstrengungen wirft sich die Frage auf, warum ihnen solche bürokratischen und menschlichen Hürden in den Weg gestellt werden.
In „Quiet Life“ steht die Familie ständig unter einem Generalverdacht: Bei Hausbesuchen der Asylbehörde, Behördengängen oder im Krankenhaus – immer werden sie auf distanzierte, aber fordernde Weise belehrt, angewiesen und ausgefragt. Besonders das Personal der steril wirkenden Kinderklinik agiert nicht nur professionell-distanziert, sondern irritiert mit einem perfekt antrainierten, entrückten Lächeln, das fast schon an „Die Frauen von Stepford“ erinnert.
Das Resignationssyndrom, das hier thematisiert wird, erscheint ebenso rätselhaft wie das sonderbare Verhalten der Behörden- und Krankenhausmitarbeiter*innen, mit denen die Familie konfrontiert wird. Die kühle Inszenierung in Grau-, Braun- und Weißtönen lässt in Verbindung mit einer Atmosphäre, in der für Gefühle kein Raum zu sein scheint, eine seltsame Grundspannung entstehen. Diese Spannung hält Regisseur Alexandros Ayranas bis zum Ende aufrecht, ohne auf Science-Fiction- oder Thriller-Elemente zurückzugreifen, die man im Zusammenhang mit einer solch bizarren Szenerie vielleicht erwarten könnte. Besonders hervorstechend ist, wie das Krankenhauspersonal den Eltern rät, bei den Besuchen ihrer Tochter alle Probleme hinter sich zu lassen und in ihrer Gegenwart ständig zu lächeln – eine Aufforderung, die angesichts der angespannten Familiensituation geradezu höhnisch wirkt.
Die Schauspieler*innen unterstreichen diese distanzierte, bürokratisch-sachliche Stimmung mit ihrem zurückhaltenden Spiel. Die beiden Kinderdarstellerinnen lassen trotz ihres passiven Agierens dabei die Traurigkeit und innere Angespanntheit der Schwestern gekonnt durchscheinen. Auch Grigoriy Dobrygin („Verräter wie wir“) und Chulpan Khamatova („Petrov's Flu – Petrow hat Fieber“) vermitteln treffend die Anspannung der Elternfiguren, die sich stets zusammenreißen müssen und ihre Emotionen zu unterdrücken versuchen. In den Szenen, in denen Sergei und Natalia die ihnen entgegengebrachte Gleichgültigkeit nicht mehr ertragen können und ihre Verzweiflung schließlich durchbricht, entfalten ihre plötzlichen Gefühlsausbrüche umso mehr Wirkung.
Fazit: „Quiet Life“ schildert in einem emotional kühlen und teils absurd wirkenden Szenario die Geschichte einer russischen Asylantenfamilie, die angesichts des hochbürokratischen schwedischen Einwanderungssystems zwischen Resignation und dem verzweifelten Ringen um Hoffnung hin- und hergerissen ist.
Wir haben „Quiet Life“ im Rahmen des 21. Festival de Sevilla gesehen.