Ein wahrer Fall, der EIGENTLICH wie gemacht ist für einen Kinofilm
Von Björn BecherAls wir zum Kinostart von „Eine Frau mit berauschenden Talenten“ mit Isabelle Huppert sprachen, verriet uns der französische Superstar, dass sie schon sehr lange mit Regisseur Jean-Paul Salomé arbeiten wollte – und der nun endlich gemeinsam realisierte Film so eine Freude war, dass man direkt ein weiteres Projekt in Angriff genommen habe. Doch ihre zweite Kollaboration „La Syndicaliste“ (deutsche Übersetzung: „Die Gewerkschafterin“) ist weit entfernt von der eher leichten Komödie über eine Polizeidolmetscherin, die anfängt, mit Drogen zu dealen. Salomé und Huppert behandeln in ihrem ernsten Drama den erschütternden wahren Fall der in Frankreich lebenden Irin Maureen Kearney, der vorgeworfen wurde, sich nur ausgedacht zu haben, Opfer eines grausamen Sexualverbrechens geworden zu sein.
Ihr jahrelanger Kampf für zumindest ein Stück Gerechtigkeit setzt in „La Syndicaliste“ aber erst nach einer knappen Stunde, in der es zwar bereits viel um (Alltags-)Sexismus, aber noch mehr um die krummen Machenschaften im französischen Atomenergie-Sektor geht, ein. Doch die merkwürdige Schwerpunktsetzung ist nur eines von vielen Problemen von Salomés Drama. Der zu Beginn viel zu hektisch und meist viel zu platt erzählte „La Syndicaliste“ ist ein typisches Beispiel für einen zwar gut gemeinten, aber trotz der gewohnt starken Hauptdarstellerin (oscarnominiert für „Elle“) dann insgesamt doch schlecht gemachten Film.
Maureen Kearney (Isabelle Huppert) kämpft für die Mitarbeiter*innen von Areva.
Seit Jahren setzt sich die ursprünglich mal als Englischlehrerin beschäftigte Maureen Kearney (Isabelle Huppert) in ihrer Rolle der Personalrätin beim vor allem im Bereich Nukleartechnikanlagen tätigen französischen Industriekonzern Areva für die Belange der Mitarbeiter und vor allem der nicht genug geförderten Mitarbeiterinnen ein. Als die Firma 2011 mit dem wenig geeigneten Luc Oursel (Yvan Attal) einen neuen Chef bekommt, ahnt Kearney schon, dass ihr schwere Zeiten bevorstehen. Doch erst ein Whistleblower aus dem französischen Staatskonzern EDF macht ihr deutlich, was wirklich vor sich geht.
Heimlich werden dort Pläne geschmiedet, beim Bau von Atomkraftwerken künftig mit China zu kooperieren. Tausende würden dann ihren Job verlieren. Kearney setzt alle Hebel in Bewegung, um diese Pläne zu stoppen. Zunächst hagelt es deshalb „nur“ anonyme Drohanrufe. Aber dann findet ihre Haushälterin die Gewerkschafterin gefesselt und misshandelt in ihrem Keller. In ihren Bauch ist der Buchstabe „A“ geritzt, ein Messer steckt mit dem Griff zuerst noch immer in ihrer Vagina. Doch der ermittelnde Polizeikommissar (Pierre Deladonchamps) ist schnell davon überzeugt, dass Maureen das Verbrechen nur vorgetäuscht hat. Plötzlich wird gegen sie ermittelt...
„La Syndicaliste“ beginnt mit gleich einer ganzen Reihe von Szenen, die alle einen Punkt untermauern sollen: Da schlägt Maureen bei einem ungarischen Firmenableger auf, weil der sexistische Chef alle weiblichen Beschäftigten feuern will. Als Areva-Chefin Anne Lauvergeon (Marina Foïs) bei einem Meeting einem Vorschlag von Maureen zustimmt, spottet ein untergebener Manager deutlich hörbar, dass die einzigen beiden Frauen natürlich zusammenhalten. Und als Lauvergeon kurz darauf durch Präsident Sarkozy abgelöst wird, bekommen wir mehrfach mitgeteilt, dass ihr Nachfolger Luc Oursel zwar weit weniger kompetent ist, aber das ja als Mann auch gar nicht sein müsse. Und so viel Wahrheit in all diesen Momenten auch steckt, nervt die Penetranz, mit der Salomé seinen Punk auf die denkbar faulste Art zu betonieren versucht.
In einem unglaublichen Tempo hetzt Salomé anschließend durch seinen ganzen Kernkraft-China-Plot. Da eilt Maureen vom konspirativen Treffen mit dem Informanten zur Konfrontation mit ihrem neuen Boss, vom verschwörerischen Austausch mit der Ex-Chefin geht es zum erfolglosen Klinkenputzen bei Abgeordneten. Wer nicht weiß, um was es in „La Syndicaliste“ im Kern eigentlich geht, wähnt sich so eine ganze Weile lang in einem schlecht erzählten Wirtschafts-Verschwörungs-Thriller. Am Ende ist so ein einschneidendes Kapitel der französischen Energiegeschichte zwar irgendwie mitgeschildert worden, geht aber nicht über ein ellenlanges Herunterspulen von dadurch eher langweiligen Ereignissen hinaus.
Von ihrer Ex-Chefin Anne Lauvergeon bekommt Maureen zumindest zu Beginn noch hilfreiche Ratschläge.
Erst wenn Salomé zu dem bereits in der Auftaktszene des Films gezeigten Auswirkungen des Angriffs auf Maureen zurückkehrt, findet die Erzählung auch mal zur Ruhe, nimmt sich der Regisseur auch mal Zeit für seine Figuren. Die gewohnt überzeugende Isabelle Huppert hat hier einige starke Momente als vielschichtige Frau, die eben nicht das typische „gute Opfer“ ist, welches sich die Ermittler bei einem Sexualverbrechen vorstellen. Sie hat sich „untypisch verhalten“, weil sie sich nicht gewehrt hat, verfügt über eine Vorgeschichte mit Alkohol und psychischen Problemen und markiert sich Passagen in Kriminalromanen.
Dass es in einer traumatisierenden Ausnahmesituation wie einem brutalen Überfall oder einer Vergewaltigung gar kein „normales Verhalten“ geben kann, zeigt Salomé in den besseren Szenen des Films dann auch durchaus nachdrücklich auf. Als Maureen mit sich ringt, ob sie nicht einfach alles hinnehmen und alle Welt glauben lassen soll, dass sich sie das Verbrechen ausgedacht hat, gibt es wie auch im Gerichtsprozess ein paar starke, weil gekonnt emotionalisierte Momente. Aber dann fällt Salomé auch schnell wieder in viel zu platte Szenen zurück (der erste Anwalt von Maureen stellt sich im Sinne des Plots dümmer an als jeder Anfänger; die Richterin führt sich auf, als sei sie die Staatsanwältin, weil es so für das Skript leichter ist, einen bestimmten Punkt zu machen).
Wenn alle Polizisten überzeugt sind, dass Maureen lügt, äußert nur die einzige auf der Wache arbeitende Frau Bedenken an der Theorie. Natürlich wird sie ignoriert. Obwohl sie als einzige ohne Penis im Raum erklären könnte, warum es eben doch denkbar ist, dass ein Messergriff über Stunden ohne herauszufallen in einer Vagina feststecken kann, halten das die männlichen Besserwisser um sie herum weiterhin für unvorstellbar. Sicherlich streift Salomé auch mit diesen Szenen wieder einen wahren Kern, aber erneut unterstreicht er diesen so plump, dass es eher wie eine nervige Belehrung rüberkommt.
Fazit: Die erschütternde und bewegende wahre Geschichte von Maureen Kierney wird in „La Syndicaliste“ trotz einer überzeugenden Isabelle Huppert als überwiegend plattes Belehrungskino abgespult.
Wir haben „La Syndicaliste“ beim Filmfestival Venedig gesehen, wo er als Teil der Sektion Orizzonti seine Weltpremiere gefeiert hat.