DAS MÄDCHEN OHNE EIGENSCHAFTEN
von Michael Grünwald / filmgenuss.com
Blut ist bei Disney immer dicker als Wasser. Kein Film, der nicht die eingeschworene Glückseligkeit der Familie zum Ziel hat, und wäre sie auch nur zu zweit. Es geht immer und rund um die Uhr um Familie, um dessen Wert, dessen Bedeutung, dessen Herrlichkeit. Dafür ist Disney gemacht – für Familien und dem Wunsch der Kleinen, mit der Elternschaft bald wieder ins Kino zu hirschen. Seit es Disney+ gibt, braucht es aber nicht mal mehr einen gemeinsamen Ausflug. Es reicht die häusliche Couch und ein ausreichend großes Fernsehgerät, um keines der liebevoll arrangierten Details aus der Animationsschmiede Disney (nicht Pixar!) zu verpassen. Mit Encanto, dem richtigen Familienfilm zur richtigen Familienzeit, präsentiert der Mauskonzern wieder in aller Farbenpracht ein metaphysisches Abenteuer, dass sich aber viel stärker an psychosoziale Inhalte der Pixar-Macher orientiert. Diesmal ist es keine Reise, keine Queste, kein Bestehen von Gefahren, währenddessen man ganz fest an sich selber glauben muss und schon haut alles hin. Encanto ist ein Film, der inhaltlich mitunter schwer greifbar ist, und der die ganz jungen wohl nicht tangieren wird, hätten die doch lieber wieder so einen knuffigen Pelzdrachen, der coole Sprüche schiebt.
Das gibt es heuer nicht, stattdessen eine Villa Kunterbunt in Kolumbien, zwischen Dörfern und grünen Bergen. Dieser magische Ort verdankt seine Exklusivität einer wundersamen Kerze, die seinerzeit der auf der Flucht befindlichen Familie Madrigal von wem auch immer zum Geschenk gemacht wurde. Alle Nachkommen haben von nun an außergewöhnliche Gaben, ganz so wie Die Unglaublichen, nur lokal verortet und ohne Superheldendress. Das reicht von Bärenstarke bis zum Blumenregen, und jedes der Kinder hat ihr eigenes Reich, in dem es tun und lassen kann, was es will. Nur Mirabel nicht. Die hat kein paradiesisches Zimmer, und auch keine Fähigkeit. Niemand weiß warum. Man könnte meinen: das hässliche Entlein. Doch hässlich ist sie auch nicht, sondern recht knuffig und klug und etwas nerdig. Sympathisch, ganz einfach. Und mit Erschaffung dieser natürlichen, burschikosen Figur haben die Character-Designer wieder ganze Arbeit geleistet. Mirabel dämmert bald, dass diese Superfähigkeiten ihren Preis haben. Und dass der Haussegen eigentlich schiefer hängt als gedacht, wobei sie selbst, wie andere behaupten, nicht unbedingt schuld dran sein muss. Sie forscht also nach – und stößt auf beunruhigende Geheimnisse, deren Ursprünge zwei Generationen zurückliegt.
Ein Familienfilm? Wohl eher eine therapeutische Familienaufstellung. Da ist Oma, ihre Kinder (eines davon verstoßen) und die Enkelinnen. Gemäß der heutigen Zeit ist ein Kind wohl nichts, wenn es nicht in ihren Begabungen gefördert wird. Da wollen die Eltern nichts verpassen und dem Nachwuchs das ermöglichen, was sie womöglich selber nie hatten. Das ist ein Leistungsdruck, der nach hinten losgehen kann. Ungefähr so wie in Encanto. Magie hin oder her – diesmal können die Esel, Tapire und Capybaras noch so witzig dreinschauen; diesmal kann das kunterbunte Häuschen noch so mit den Kacheln klappern – was Encanto anstrebt, ist die Suche nach dem Besonderen im Charakter des einzelnen, und die Abkehr von dem, was man leisten muss, nur weil man es vielleicht gut kann. Ein Ansatz, der überraschend ernsthaft und ehrlich daherkommt, den die zum besten gegebenen Musiknummern auch gebührend unterstreichen, ohne zum Selbstzweck zu verkommen. Disney schaut also von Pixar ab? Natürlich, warum nicht. Ein bisschen mehr Konsequenz vor allem in der finalen Szene hätte aber nicht geschadet, doch da hat Disney dann doch nicht weniger als mehr gelten lassen. Die Magie hat wie immer das letzte Wort. Wäre das aber nicht passiert, hätten wir ein kleines Meisterwerk gehabt.
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