Einer der besten Disney-Animationsfilme seit langer Zeit!
Von Sidney ScheringByron Howard dürfte noch immer nur wenigen Filmfans ein Begriff sein. Dabei ist der Regisseur bereits für mehrere sehr erfolgreiche Filme verantwortlich. Der frühere Trickzeichner inszenierte für die Walt Disney Animation Studios nämlich die Action-Komödie „Bolt“, das Märchen-Musical „Rapunzel – Neu verföhnt“ sowie den Milliarden-Dollar-Hit „Zoomania“, bei dem „Vaiana“-Autor Jared Bush das Drehbuch mitverantwortete und als Co-Regisseur fungierte. Noch während der Arbeit an der sati(e)rischen Kriminal-Komödie beschlossen Bush und Howard, als gleichberechtigtes Regie-Team erneut zusammenarbeiten zu wollen …
… und zwar im von beiden gleichermaßen geliebten Musical-Genre. Ein Wunsch, der nun fabelhafte Früchte trägt: „Encanto“, für den das Duo auch noch den „Hamilton“-Schöpfer Lin-Manuel Miranda als Songschreiber ins Boot holten, ist nicht nur ein farbenfroher, munterer und emotionaler Kolumbien-Trip. Es ist darüber hinaus auch einer der besten Disney-Trickfilme der Computeranimations-Ära überhaupt!
Eine Familie mit besonderen Fähigkeiten: Bei den Madrigals hat jeder und jede eine magische Kraft - nur Mirabel leider nicht.
Seit Generationen lebt die Familie Madrigal in den Bergen Kolumbiens in einem kunterbunten, magischen Haus, das allen Nachkommen der wortkargen Matriarchin Abuela (im Original gesprochen von: María Cecilia Boter) jeweils eine andere besondere Gabe verleiht. Nur der quirligen Mirabel (Stephanie Beatriz) wurde dieses Geschenk verwehrt, weshalb sie sich zwischen ihren zauberhaften Schwestern, Tanten, Cousins und Cousinen mitunter deplatziert fühlt. Als sie sich eines Tages darum sorgt, dass das Madrigal-Familienheim vom Einsturz bedroht sein könnte, stellt sich deshalb auch die Frage: Spielt sich Mirabel einfach nur auf oder ist sie tatsächlich die einzige, die die warnenden Zeichen an der Wand sehen kann?
Bereits bei der 2016 veröffentlichten Abenteuer-Musicalkomödie „Vaiana“ mit der Stimme von Dwayne Johnson als hawaiianischen Halbgott Maui setzte Disney auf Songs von Lin-Manuel Miranda. Während der dreifache Grammy-Gewinner in dem Südsee-Abenteuer noch den klassischen Disney-Musical-Stil mit ein bisschen eigener Handschrift bediente, drückt er „Encanto“ diesmal viel stärker seinen eigenen Stempel auf. Die Lieder, die hier durch das atemberaubend-farbenfroh animierte Kolumbien hallen, setzen auf Mirandas markant hohes Lyric-Tempo sowie seine unverwechselbar-doppelbödigen Wortspielereien, durch die das historische Politstück „Hamilton“ zum Jahrhundert-Musical avancierte.
Ein durchweg starker Miranda-Vibe bedeutet jedoch keinesfalls mangelnde Abwechslung: Wie schon in seinem Broadway-Megahit lässt der Musiker in „Encanto“ zahlreiche Einflüsse ineinander übergehen. Die Bandbreite reicht von verspielt-rhythmischen Musicalnummern über Latin Pop bis hin zu gewitzt-jammerndem Flamenco – und jeder einzelne der Songs bleibt auch nach dem Rollen des Abspanns noch lange im Ohr. Denkwürdig sind darüber hinaus die liebevoll entworfenen Choreografien, denn jedes Madrigal-Familienmitglied hat einen ganz eigenen Tanzstil, der seinem Charakter entspricht – von katzenhaft-schleichend bis mitreißend-munter, wenn auch dezent neben dem Takt (im Fall von Mirabel selbst).
Mit diesen musikalischen Einlagen und einem überaus effizienten, trotz aller Zügigkeit nie überhastet wirkenden Drehbuch, erzählt „Encanto“ eine gleichermaßen simple wie ausgeklügelte Story. Simpel, weil sie so geradlinig und zugänglich erzählt ist, dass der Identifikationsfaktor enorm hoch ist – wem ging es bitte nicht schon einmal wie Mirabel, die sich als nicht besonders genug empfindet und daher ausgeschlossen fühlt? Ausgeklügelt hingegen deshalb, weil alle handlungsrelevanten Figuren ambitioniert mehrschichtig sind und daher sämtliche vermeintlich einfachen Konflikte an Dimension und Tragweite gewinnen.
"Encanto" ist ein wahrhaft berauschendes Animations-Musical-Fest!
So entsteht ein mitreißender Strudel der Gefühle – in der einen Sekunde will man noch gemeinsam mit Mirabel ihre muskulöse Schwester Luisa schelten, weil sie sie in einem Moment des familieninternen Zwists nicht stützt, obwohl sie stillschweigend auf ihrer Seite steht. In der nächsten will man Luisa am liebsten tröstend in den Arm nehmen und ihr zuflüstern, dass sie sich nicht dauernd überanstrengen sollte. Und wieder kurze Zeit später weiß man nicht, wohin mit den Gefühlen, weil das Mitleid für Luisa weiterhin besteht, sie aber Mirabel durch eine unglückliche Wortwahl nur noch größeren Ärger mit Abuela einbrockt.
Solche Momente der Unentschlossenheit ziehen sich durch den gesamten Film und versetzen das Publikum somit sehr effektiv in die Schuhe Mirabels, die ebenso stolz auf ihre Familie ist wie von ihr frustriert. Darüber hinaus ist es den Filmschaffenden gelungen, mit ihrer ebenso gewitzten wie gefühlvollen Reflexion über konfliktbehaftete Familienbande und generationenübergreifende Verantwortlichkeit trotz aller spezifischen Details eine universell gültige Geschichte zu entwerfen. Insbesondere die Kurzschlussreaktionen innerhalb der Madrigal-Familie, wann immer weniger rosige Zukunftsaussichten angerissen werden, hat universellen, ja sogar tagesaktuellen Charakter.
Ganz gleich, ob es um gesundheitliche oder ökologische Fragen geht: Unentwegt werden auch in der realen Welt jene, die vor anstehenden Katastrophen warnen und zügiges Handeln einfordern, damit sich das Unglück noch abwenden lässt, derart angefeindet, als seien sie es, die das Elend heraufbeschworen haben. Der vernünftigere Umgang mit Warnungen ist nur eine von vielen Lektionen in „Encanto“.
Da all diese Aussagen nicht nur mit Herz und Witz vermittelt werden, sondern sich zudem stets organisch aus den charaktergesteuerten Missverständnissen sowie Konflikten ergeben, wirkt dieses kreative Musical niemals moralinsauer. Stattdessen präsentieren Howard, Bush und Smith eine schlichtweg packende, fabelhaft gestaltete, musikalisch mitreißende Familiengeschichte, die in allererster Linie für sich spricht – dass sie mit derartiger Tragweite nachhallt, ist dabei schlicht ein willkommenes Vermächtnis der Madrigals.
Fazit: Wunderschöne Bilder, mitreißende Songs und eine Filmfamilie, die man trotz (oder gerade wegen) ihrer Ecken und Kanten tief ins Herz schließt: „Encanto“ ist in vielfacher Hinsicht bewegendes Animationskino, das sich auch vor den großen Disney-Klassikern nicht zu verstecken braucht.