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    Nobody's Hero
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Nobody's Hero

    Sex, Begehren und ganz viel Paranoia

    Von Kamil Moll

    Clermont-Ferrand, eine Stadt im Nirgendwo und Überall Mittelfrankreichs: Médéric (Jean-Charles Clichet) ist ein schluffiger Mittdreißiger, der als Informatiker irgendwas mit Home-Office macht. Am Anfang von „Nobody’s Hero“, dem neuen Meisterstück von Alain Guiraudie, spricht er die Prostituierte Isadora (Noémie Lvovsky, selbst eine exzellente Regisseurin) an: Er wolle mit ihr, älter als er, vielleicht um die 50, unbedingt schlafen – aber nicht dafür bezahlen, denn von Sexarbeit halte er nicht viel, und ohnehin sei er bereits in sie verliebt. „Sie werden doch wohl auch außerhalb der Arbeit Sex haben“, sagt Médéric und meint es nicht als Frage. Alle Filme Guiraudies handeln von Lust als Antriebskraft hinter allem anderen – aber „Nobody’s Hero“, so der Regisseur in einem Interview, sei auch ein Film, der sich einen Weg zwischen Begehren und Paranoia suche.

    Die Paranoia beginnt dort, wo das Begehren von außen gestört wird. Médéric und Isadora treffen sich also in einem Hotelzimmer und ficken miteinander – das lässt sich bei den Filmen Guiraudies stets auf’s Schönste so beschreiben, denn niemand inszeniert das Körperliche in Sexszenen jenseits von Pornos greifbarer als er. Aber dann wird der Akt durch eine Eilmeldung des im Hintergrund laufenden Fernsehgeräts unterbrochen – zu sehen sind Bilder eines Attentats, das drei junge Männer unweit des Hotels verübt haben. Als er nach Hause kommt, trifft Médéric vor der Tür auf den arabischstämmigen Jungen Sélim (Iliès Kadri). Dieser bittet ihn um Geld und darum, im Hausflur übernachten zu dürfen – aufnehmen würde ihn als Araber nun unmittelbar nach dem Anschlag sonst ja niemand mehr.

    Médéric (Jean-Charles Clichet) wähnt sich endlich am Ziel - und dann machen ihm Terroristen einen Strich durch die Rechnung.

    Médéric gibt nach, bekommt es dann aber mit der Angst zu tun. Aus Misstrauen verständigt er die Polizei. Nachts träumt er davon, wie Männer vor seinem Fernseher knien und Foltervideos anbeten, während er sie nackt beobachtet und filmt. Aus Paranoia und Furcht entsteht wieder Lust – und spätestens ab diesem Moment verdreht sich „Nobody’s Hero“ in so viele Richtungen zugleich, dass eine bloße Wiedergabe des Inhalts den Film kaum noch zu fassen bekommen würde...

    Wer bislang nur Guiraudies erfolgreichsten Film „Der Fremde am See“, eine lyrische Slasher-Liebesgeschichte am Cruising-Area-Ufer eines sonnendurchschienenen und mondverhüllten Sees, gesehen hat, wird sich möglicherweise über den betont albernen, jede Gelegenheit zum höheren Blödsinn dankend aufgreifenden Tonfall des Films wundern. Dabei ist „Nobody’s Hero“ ähnlich wie der vorhergehende „Staying Vertical“ (2016) im Humor wieder näher dran an den freisinnigen Fabeln des Frühwerks Guiraudies, in dem schwule Lust auf versponnene moderne Ritter- oder Freibeutergeschichten trifft.

    Die lustigen Seiten von Terror & Pandemie

    Anders und neu an dem Film ist hingegen das Setting: Mit „Nobody’s Hero“ drehte Guiraudie, ein Regisseur des Regionalen, Ländlichen, des natürlichen Lichts und der Spaziergänge und Fluchtbewegungen auf den Hochebenen im Südwesten Frankreichs, seinen ersten städtischen Film. Indem er sich der Atmosphäre und Stimmung einer Stadt im Ausnahmezustand nach einem Terrorakt (in Details sichtlich inspiriert durch die Pariser Anschläge im Jahr 2015, die für die französische Gesellschaft bis heute eine Zäsur darstellen) durch ein sich im Laufe der Geschichte immer wieder neu zusammensetzendes Beziehungsgeflecht nähert, erzählt er etwas, das auch auf eine andere Weise in die Gegenwart ragt: Auf eine sehr entspannte und unaufdringliche, ungerührt komische und frivole Art ist „Nobody’s Hero“ ebenfalls ein Pandemiefilm, wie er anderen Regisseur*innen, die explizit Pandemie-Thematiken behandelten, bislang nicht gelungen ist.

    Gegen den verhärmten Blick auf unvereinbare und unversöhnliche Positionen setzt Guiraudie die großzügig vorurteilsfreie Beschäftigung mit beiläufigen Momenten: Wenn eine Arbeitskollegin Médéric auf der Straße verführen möchte und daran durch das nächtliche Ausgangsverbot gehindert wird, ist ein Lockdown für Guiraudie zunächst einmal eines – nämlich ein praktisches Hindernis für etwas, das in keinem unmittelbaren Zusammenhang zum Verbot steht.

    Die Paranoia übernimmt die Vorherrschaft in Clermont-Ferrand...

    In dem Song „Viens je t’emmène“, nach dem Guiraudie seinen Film im französischen Original benannt hat, singt France Gall: „Ich habe meine Augen so sehr geschlossen, ich habe so viel geträumt, dass ich dort angekommen bin.“ Träume sind in Guiraudies Filmen selten etwas Gegensätzliches zur Wirklichkeit. Am Anfang seines Langfilmdebüts „Wer schläft, der stirbt“ (2003) droht der Titelfigur im Schlaf ein Wesen, dies sei sein letzter Traum, nun dürfe er die Augen nicht mehr schließen, sonst würde er im nächsten Traum sterben. Wach sein, wach bleiben, das heißt in „Nobody’s Hero“: Die Lust und Sehnsucht, von der man geträumt hat, gegen die Widerstände und Ängste der Realität verwirklichen können.

    Fazit: In seinem neuen, großartigen Film „Nobody’s Hero“ erzählt Alain Guiraudie auf eine sehr entspannte und unaufdringliche Art sowie mit Gespür für Albernheit und höheren Blödsinn von verhinderter Lust und überwundener Angst inmitten einer Terrorpanik.

    Wir haben „Nobody’s Hero“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm der Sektion Panorama gezeigt wurde.

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