"Nein! Deine Frau ist Martha."
So, nun habe ich Elizabeth Taylor zum ersten Mal in Aktion erlebt oder besser gesagt Martha, das Ungeheuer.
"Ich ekele mich vor mir. [...] George der [...], der gut zu mir ist und den ich verleumde, [...] der mich glücklich machen könnte, obwohl ich gar nicht glücklich werden will, der den verletzendsten und schrecklichsten Fehler begannen hat, den es gibt, er verliebte sich in mich."
Ich erinnere mich an eine ähnliche Frau, in meinem Leben und ich wollte auch sagen "Das ist die Richtige für mich". Aber da wusste ich nicht, dass sie alles dafür tun würde es mir auszutreiben.
Eigentlich wollte ich aus diesem Grund den Film schon nach 15 Minuten ausschalten, weil ich ahnte welcher Psychoterror kommen würde. Was mich dennoch hielt und fesselte, ist der brutalste Tabubruch für eine Ehe den man sich für das Jahr 1966 vorstellen kann. Nach 45 Minuten hätte ich schon 8,5 Punkte vergeben. Es gab zwar eine Verschnaufpause und danach sollte man mit einer weiteren Steigerung rechnen, doch diese habe ich dann kräftig unterschätzt.
Dann passiert etwas Spezielles, denn mit steigendem Spannungsbogen und zunehmender Befreiung der Schauspieler, weil sie in ihrer Rolle sichtlich aufgehen, entzeitlicht sich der Film. Nun fällt er so total aus dem 1960er Rahmen, denn mit den Dialogen ist man nun irgendwo zwischen Schrecken und Lachen gefangen, eine Ästhetik die man Erhabenheit nennt und ja: Martha ist ein "Ungeheuer"!
Aber Stück für Stück kämpft sich ihr Ehemann aus der Looserposition heraus und schließlich beweist er sich als derjenige, der dem ganzen Drama die Führung mitsamt seinen Überschriften gibt:
1. Der gedemütigte Hausherr
2. Gäste reinlegen
3. Bums die Hausfrau bzw. Hausbursche oder Deckhengst?
4. Kindererziehung
Doch das ist eine zunächst oberflächliche Analyse. Es folgt nur der Versuch einer Interpretation:
Martha ist ein zutiefst psychotische Frau, die ihr Unglück, keine Kinder bekommen zu können, im Alkohol ersäuft.
Dass eine Frau darunter so leidet, wird nach der sexuellen Befreiung, Emanzipation der Frau und der aktuellen Demografie, für Generationen die in den 1980ern geboren sind, nicht mehr so selbstverständlich nachvollziehbar sein.
Die Zeiten haben sich geändert: Heute wird man in einer Kleinstadt nicht mehr das Opfer von Tratsch und Diskriminierungen, wenn man als Ehepaar keine Kinder bekommen kann oder will. Der gesellschaftliche Druck Kinder zu bekommen, war bis in die späten 1960er Jahre immens hoch. Doch George ist bereit das Schicksal mit Martha zu teilen und gesteht, dass auch er unfruchtbar ist. (Ich vermute er ist es nicht, aber sagt es aus Liebe). In jedem Fall ist es auch für ihn demütigend, es zu gestehen.
Die Konsequenzen dieser Ehe sind aus gesellschaftlicher Sicht verheerend. Hatten sie doch die besten Bedingungen, weil Marthas Vater der Dekan der Universität ist. George hätte also die ausreichenden Beziehungen zu mindestens Leiter der historischen Fakultät zu werden. Mit Mitte 45 hat er dieses Alter nach eigenen Angaben schon überschritten. Der Hintergrund, dass er es unter den besten Bedingungen nicht geworden ist, wird zwischen den Zeilen angedeutet und hängt am Hauptthema Kinderlosigkeit. Man brauch sich nur noch einmal die Tragweite der Kinderlosigkeit in den 60er Jahren vor Augen zu halten, dann ist es klar warum George der weitere Weg auf der Karriereleiter versagt geblieben ist. In jedem zweitklassigen Karriereberater-Buch der 60er stand drin, dass man nur Führungspersönlichkeit in der Öffentlichkeit werden kann, wenn man mindestens verheiratet ist und am besten Kinder sein eigenen nennen kann.
Es zeigt sich auch in der ganzen Auseinandersetzung, so tief treffend sie auch sein mögen eines, dass Martha und George sich den Punkt der Kinderlosigkeit nie gegenseitig vorwerfen.Es zeigt sich aber etwas anderes und zwar, dass Martha die Opfer angeschleppt hat und George, der sich zu erst wehrt, doch seine Frau so gut kennt, dass man davon ausgehen musste, dass er es absichtlich nicht verhindert hat, weil er das Interesse andere zu quälen insgeheim teilt. Das spürt man daran, dass er den jungen Nick gar nicht mehr weglässt. George ist genauso ein Spinne wie seine Frau Martha, die währenddessen Honey beschäftigt.
Doch das "Quälen" von anderen Ehepaaren ist nicht das erste Ziel von beiden, auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag. Ihr Ziel ist der letzte Programmpunkt, die "Kindererziehung" und alle Programmpunkte wurde schon etliche Male durchgespielt, denn es war nicht das erste Mal, denn beide geben genug Hinweise, dass sie den weiteren Ablauf längst kennen und unzählige Male durchgezogen haben. In einzelnen Szenen spürt man förmlich die Routine in Form eines Schraubstocks, der taktisch klug zum Richtigen Zeitpunkt die Zwingen anzieht um die Situation weiter kontrollieren zu können.
Das Drama der Ehe ist jedoch nicht fingiert um Fremden Szenen einer Ehe vorzuspielen oder um sich interessant zu machen bzw. das Gegenteil oder einfach nur zu trollen. Es ist aber auch nicht ohne Sinn und Zweck.
Ein Hinweis darauf ist, dass Martha und George zielsicher Nick und Honey ausgewählt haben, weil sie die zukünftige erfolgreiche Familie sein könnten, also mit Kindern und Nick als Fakultätsleiter der Biologie, die Martha und George nicht sein konnten. Martha und George sind so berechnend, dass sie schon von den Äußerlichkeiten darauf schließen, dass die beiden keine Kinder haben oder haben werden, weil Honey so "flache Hüften" hätte. Das ist ein diskriminierender Sprachcode der 1960er und damit ein deutlicher Hinweis darauf, dass Honey wohl eher schlecht gebären wird. Honey und Nick werden damit sogar völlig unsensibel konfrontiert und nicht nur das.
Das komplette Spiel ist darauf ausgerichtet einem jungen Paar mitzuteilen, dass sie Illusionen vom gesellschaftlichen Erfolg haben, weil weder die Frau noch der Mann sexuell tauglich seien. Das lebendige Beispiel dafür sind Martha und George und sie tun alles um das junge Paar darin zu unterrichten. Eine Szene ist dafür der ausschlaggebende Nachweis für diese Taktik. Als George mit Nick alleine vor dem Haus auf der Wiese liegen versucht George das Ego Nicks zu provozieren und landet zielsicher dabei, dass Nick nun offenen davon spricht wie er die Karriereleiter erklimmen würde und dass seine Frau und er Schwierigkeiten haben Kinder zu bekommen. Nick versucht George zu vermitteln, dass Honey eine hysterische Schwangerschaft hatte, aber dahinter steckt wohl das Schönreden, dass Honey vielleicht ihr Kind verloren hatte. George beendet das Gespräch, nicht weil Martha bereits gerufen hätte, sondern erst als er diese zwei Punkte aus Nick, der sich freiwillige geöffnet hatte, herausoperiert hatte.
Der ganze weitere Verlauf, mit all seinen Demütigungen des jungen Paares, ist nur noch Makulatur und zeigt, dass Nick und Honey nicht einen blassen Schimmer davon haben, was die beiden Alkoholiker mit ihnen anstellen werden. Das liegt vor allem daran, dass Martha und George Scheingefechte führen, die auf andere authentisch erscheinen, weil sie verletzender und tabuloser nicht sein könnten, aber in Wahrheit sind sie nur das Feuer über dem die Opfer durchgegrillt werden.
Zuerst lässt man das junge Paar in dem Glauben, dass es einen Sohn gäbe. Es ist ein wichtiger Punkt, warum Nick und Honey zu den beiden aufschauen und auch bei ihnen bleiben. Sehr früh spricht George von seinem Roman, dessen Handlung Martha völlig diskreditiert und verhöhnt, ohne das Ende anzusprechen. Auch spricht George im ersten Drittels des Film von der Allegorie, womit er selbst Hinweise gibt, dass alles nur Fiktion sein könnte bzw. der Roman das fiktive Gegenstück zur Realität ist. Aber Nick und Honey erliegen der Fiktion, denn das Buch dass George nicht veröffentlicht hat, wird immer mehr zum führenden Element der Handlung.
Schließlich vollzieht George die Peripetie: Es ist davon auszugehen, dass Martha das Ende längst kennt, weil es die Allegorie ihrer Trümmerehe ist, aber Nick und Honey wollen die Offenbarung der Wahrheit verhindern, damit Martha nicht ihre Illusion verliert, dass sie weder einen lebenden noch einen toten Sohn haben wird. Pünktlich zu Sonnenaufgang ist der Punkt an dem George und Martha ihr Nachtwerk pünktlich vollenden und die Opfer aus dem verfluchten Haus entlassen. "Kinder geht nach hause, ihr seit schon viel zu lange auf."
An diesem Punkt bleibt noch unklar, ob Martha wirklich so abgekocht ist, das genaue Ende zu kennen und viel wichtiger, ob sie es wahr haben wollte, dass die Fiktion eine Allegorie auf die Realität der Kinderlosigkeit ihrer eigenen Ehe ist, vor allem ob sie es endlich akzeptieren wird. Dem jungen Pärchen wird keine abschließende Frage erlaubt, doch der Zuschauer erhält ein wenig mehr Gewissheit.
In dem folgenden Zwiegespräch zwischen dem alten Ehepaar, fragt nun Martha "Hast du das tun müssen", George antwortet "Ja, es war soweit". Nun ist also klar, dass George seine Martha vor der Wahrheit geschont hatte und bisher nie so weit gegangen ist. Martha ist weiter im Zweifel ob "nur wir beide" oder "könnten wir nicht", was George unterdrückt.
Ob nun die Heilung bei ihr einsetzt, kann man letztlich nicht sagen, aber am Schluss scheint die Sonne klamm und die säuselnde friedliche Musik mag den Anschein erwecken, wie immer man sie auch deuten mag. Jedenfalls ist der ganze Tag ein Sonntag, wie George sagt, er meint damit ein Tag damit die Wunden heilen können.