100 Minuten pure Menschlichkeit
Von Christoph PetersenGerade in den USA wird das Thema Abtreibung weiterhin von allen Seiten mit den härtesten Bandagen ausgefochten. Aber Eliza Hittman („Tote Mädchen lügen nicht“) geht es in ihrem dritten Spielfilm „Niemals Selten Manchmal Immer“ überhaupt nicht um irgendwelche politischen, ethischen oder religiösen Argumente. Stattdessen versetzt sie sich mit einem Maß an Empathie, wie man es im Kino nur ganz, ganz selten erlebt, in die Haut einer 17-Jährigen, die feststellen muss, dass sie ungewollt schwanger ist. Es folgt ein fast schon dokumentarisch anmutender Roadtrip, der einen die ganze Verzweiflung der jungen Protagonistin unmittelbar spüren lässt, ohne sie mit den üblichen filmischen Übertreibungen weiter zu befeuern. „Niemals Selten Manchmal Immer“ ist ein betont nüchterner, naturalistischer Film, der einem genau deshalb immer wieder den Boden unter den Füßen wegzieht.
Autumn (Sidney Flanigan) ist 17 und ungewollt schwanger. Das Kind zu bekommen, steht für sie genauso wenig zur Diskussion wie ein Gespräch mit ihren Eltern. In ihrem Heimatstaat Pennsylvania sind Abtreibungen bei Minderjährigen allerdings nur erlaubt, wenn die Erziehungsberechtigten vorher ihr Einverständnis erklärt haben. Autumn begibt sich deshalb mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) auf einen Bus-Trip nach New York, wo solche Eingriffe zulässig sind. Weil sie allerdings schon in der 18. Woche schwanger ist, nimmt die Operation mehr Zeit in Anspruch als ursprünglich geplant. Ohne Geld für ein Hotel müssen Autumn und Skylar zwei Nächte in den Spielcafés, Bahnhöfen und Subways von Manhattan verbringen – als ob die bevorstehende Abtreibung nicht schon belastend genug wäre…
Autumn auf dem Weg nach New York - ohne einen wirklichen Plan, wie das mit so einer Abtreibung eigentlich abläuft.
Zu Beginn ist es nicht leicht, Autumn zu verstehen, so verschlossen ist sie. Ihre Reaktion auf die Schwangerschaftsnachricht besteht zunächst nur darin, sich mit einer Sicherheitsnadel ein Loch für ein Nasenpiercing zu stechen. Wenn wir sie wenig später beim Googeln beobachten, wird uns der Grad ihrer Verzweiflung aber schlagartig bewusst – da checkt sie erst nach den Abtreibungsgesetzen in Pennsylvania (wo Eltern zustimmen müssen), bevor sie direkt nach Möglichkeiten sucht, den Fötus auf eigene Faust wieder loszuwerden: Sie schluckt haufenweise Vitamin-C-Tabletten und schlägt sich selbst so oft in den Bauch, bis er nahezu vollständig von blauen Flecken übersät ist. Das ist auf eine fast schon niedliche Weise naiv und hilflos – und gerade deshalb so ungemein verstörend.
Aber selbst das ist noch nichts gegen die titelgebende „Niemals Selten Manchmal Immer“-Szene, in der Autumn in der Vorbereitung auf die Abtreibung von einer Beraterin von Planned Parenthood nach ihren Sexual- und Missbrauchserfahrungen befragt wird. Dabei soll sie vorgegebene Aussagen in die Kategorien „Niemals“, „Selten“, „Manchmal“ und „Immer“ einsortieren. Eliza Hittman bleibt in einer einzelnen langen Einstellung ganz nah am Gesicht von Autumn, in dem plötzlich die verschiedensten Emotionen um die Vorherrschaft ringen – Rührung, weil sich endlich mal jemand wirklich für sie interessiert; Verzweiflung, weil sie sich trotzdem nicht vollständig öffnen kann; Schrecken, weil ihr so erst selbst klar zu werden scheint, was sie eigentlich schon durchgemacht (und teilweise womöglich sogar für „normal“ gehalten) hat.
Es ist einer der intensivsten Momente des Kinojahres – und zugleich die Szene, nach der dann endgültig klar ist, dass wir von Schauspieldebütantin Sidney Flanigan noch viel sehen und hören werden. Kaum weniger brillant ist Newcomerin Talia Ryder, die demnächst auch in Steven Spielbergs „West Side Story“-Remake eine größere Rolle bekleiden wird. Als Skylar ist sie zwar für ihre Cousine der Fels in der Brandung – aber das macht sie im Endeffekt auch nicht weniger verletzlich: Um das Geld für die Rückfahrt zusammenzubekommen, muss sie mit einer Busbekanntschaft (Théodore Pellerin) anbandeln – es ist vielleicht nicht legal ein Missbrauch, aber Autumn versteht sofort, was ihre Freundin für sie tut. Sie hält in dem Moment ihre Hand, genau wie es die Planned-Parenthood-Beraterin zuvor bei ihr getan hat. Wenn sich solche Dinge schon nicht verhindern lassen, begegnet man ihnen zumindest mit weiblicher Solidarität.
Skylar würde für ihre Cousine und beste Freundin wohl alles tun.
Autumns Erfahrung ist bewusst keine Außergewöhnliche – es gibt auf dem Trip keine besonders schlimmen Dinge, die ihr zustoßen, nur weil die Drehbuchautoren meinen, dass sie noch nicht genug gelitten hätte oder die Story noch ein wenig mehr Dramatik vertragen könnte. Statt solcher Szenen, die man eigentlich in jedem Abtreibungs-Drama bekommt und die dann auch immer sofort als filmisches Mittel zu durchschauen sind, nimmt Eliza Hittman ganz konsequent die Perspektive ihrer Protagonistin ein – und das färbt auch die Sicht des Films auf die Abtreibungsgegner:
Autumn hat wie gesagt selbst gar keine Meinung dazu – sie will einfach nur nicht mehr schwanger sein. Deshalb durchschaut sie auch die Taktiken ihrer heimischen Pro-Life-Frauenärztin, eigentlich eine sehr liebenswerte und hilfsbereite ältere Dame, gar nicht (das muss sich der Zuschauer anschließend schon selbst zusammenreimen). So kündigt die Ärztin vor dem ersten Ultraschall etwa an, dass Autumn nun gleich das „magischste aller Geräusche“ (nämlich den Herzschlag ihres Babys) hören werde. Und wohl auch hinter der falschen Angabe der Schwangerschaftswoche steckt höchstwahrscheinlich eine weitergehende Absicht (etwa die, dass sich Autumn bei der Entscheidung so lange Zeit lässt, bis es juristisch endgültig zu spät ist).
Auch wenn Autumn schließlich die Klink in Manhattan betritt, legt es „Niemals Selten Manchmal Immer“ nicht darauf an, die davor protestierenden Hardcore-Christen mehr als nötig zu verteufeln – aber auf die Teenagerin müssen die schilderschwingenden, ihre Parolen schreienden, teilweise weiß verhüllten Demonstranten einfach wie krakeelende Dämonen wirken. Eliza Hittman lässt sich auf die Argumente der tobenden Abtreibungsdebatte ja aber eh gar nicht erst ein. Sie zeigt nur ohne jede unnötige Zuspitzung, wie die Dinge jetzt gerade ganz konkret in den USA (und großen Teilen der Welt) laufen – und das ist wahrscheinlich ohnehin der kraftvollste Diskussionsbeitrag, den man sich nur vorstellen kann.
Fazit: Selten hat man einen empathischeren Film gesehen – Eliza Hittman lässt ihren jungen Stars jede Menge Raum, um aus ihren Rollen Menschen aus Fleisch und Blut zu formen, während die Regisseurin selbst mit einem geradezu unerhörten Maß an Einfühlungsvermögen vom Schicksal einer ungewollt schwangeren Teenagerin erzählt. Keine Überspitzungen, keine Verharmlosungen, kein forcierter Moment – und gerade deshalb ein so ungemein kraftvoller Film.
Wir haben „Niemals Selten Manchmal Immer“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.