... und der Hund klaut den Schwamm
Von Jochen WernerEine Umzugsszene. Alle wirbeln umeinander: Mitbewohner*innen, Helfer*innen, Handwerker, Nachbarskinder, eine Mutter, erst einer, dann zwei Hunde, später taucht noch eine Katze auf, die Nachbarin von unten. Ein Baby schreit ohrenbetäubend übers Babyfon, vielleicht hat die Katze es gekratzt. Lisa (Liliane Amuat) zieht hier ein, Mara (Henriette Confurius) bleibt in der gemeinsamen WG zurück. Mara hat Herpes, dann kriegt Lisa es jetzt auch, sagt ihre Mutter Astrid (Ursina Lardi). Damit Lisa sie nicht so schnell vergisst, sagt Mara. Astrid flirtet mit dem Handwerker Jurek (André M. Hennicke), Lisa ist das suspekt, im Bad ist Schimmel, Mara sucht ein Teppichmesser und zerkratzt damit die Anrichte in der Küche. Sie hat einen Grundriss von Lisas Wohnung ausgedruckt, vier exakt gleich große Zimmer, beim Ausdrucken hat es ihr das PDF zerschossen, sie findet die zufällige Anordnung von Strichen und Buchstaben schön. Der eine Hund klaut den Spülschwamm, der andere bekommt von Mara heißen Kaffee über den Rücken gegossen. Er jault, der andere Hund kratzt an der Badtür und klaut noch einen Schwamm.
Die erste halbe Stunde von „Das Mädchen und die Spinne“ ist eine atemlose Choreografie aus Geräuschen, Dialogen, Blicken, Lichtstrahlen, fortwährenden Auf- und Abgängen. Nie ist jemand länger als einen Augenblick allein in diesem Gewusel, kein Zwiegespräch bleibt lang unter vier Augen, keine kleine Gemeinheit unbeobachtet, immer steht irgendwer schon eine Sekunde zu lang im Türrahmen, und immer summt irgendwer „Voyage Voyage“, oder klimpert es auf dem Klavier, oder spielt es von CD ein. Mit dieser Eröffnungssequenz knüpfen die Schweizer Zwillingsbrüder Roman und Silvan Zürcher nahtlos an ihren Erstling „Das merkwürdige Kätzchen“ an – und ein Motiv, das bereits im „Kätzchen“ vorkam, nämlich ein langer, wieder eingesaugter Spuckefaden, scheint diese Verbindungslinie zu bestätigen.
Der letzte Abend in der alten WG: Bei der Party wird genauso viel Gewuselt wie beim Umzug.
Überhaupt muss man nicht lange nachdenken, wer diesen Film inszeniert haben könnte, denn die Handschrift der Zürcher-Brüder, die bereits vor acht Jahren beim „Kätzchen“, dem wohl besten deutschsprachigen Debüt der vergangenen Dekade, neu und einzigartig erschien, ist auch in „Das Mädchen und die Spinne“ völlig unverkennbar. Dennoch steckt mehr hinter diesem Nachfolger als ein bloßes „mehr davon“. Wo der Vorgänger ungeheuer verdichtete 70 Minuten lang an einen Innenraum gefesselt bleibt, in dem anhand der alltäglichen Routinen eines Patchwork-Familienfrühstücks allerlei Abgründigkeiten und Feindseligkeiten an die Oberfläche treten oder, und das ist eigentlich noch schlimmer, mit spürbarer Anstrengung gerade noch so unter der Decke der Zivilisation gehalten werden, zerstreut sich das Ensemble der „Spinne“ nach dem ersten Filmdrittel auf wechselnde Schauplätze – im Wesentlichen Lisas neue Wohnung und die WG, aber hier und da auch mal Nachbarwohnungen, Straßenszenen, Pommesbuden, schlussendlich gar ein Kreuzfahrtschiff – und nimmt auch diesen erweiterten Raum mühelos in Besitz.
Träume, Erinnerungen und Erzählungen bringen die Linearität wie die objektive Verlässlichkeit des Geschehens ins Taumeln, Ursachen für zuvor im Vorübereilen angedeutete Verletzungen werden eine Filmstunde später nachgereicht, und auf halber Strecke bedient sich „Das Mädchen und die Spinne“ gar eine regnerische Nacht lang beim formalen Repertoire des Horrorfilms und lässt Fenster vom Sturmwind aufwehen, Eulen drohend in die Kamera blicken und einsame Nachbarinnen als Hexen im Nachthemd auf dem Dach tanzen. Im Grunde war ja ohnehin bereits „Das merkwürdige Kätzchen“ ein Horrorfilm, und „Das Mädchen und die Spinne“ ist es gewiss nicht weniger – wahrscheinlich wäre es tatsächlich ein konsequenter nächster Schritt für die Zürcher-Brüder, in Zukunft einmal einen waschechten Genrefilm zu inszenieren. Auf allen Klaviaturen des zwischenmenschlichen Schreckens spielen sie auf jeden Fall jetzt schon virtuos.
Aber was genau macht eigentlich diesen Schrecken aus, warum wirken diese Filme so stark und bleiben doch gleichzeitig auf eine seltsame Art ungreifbar? Zur Kenntlichkeit verzerrt scheint manches, anderes geradezu exzessiv zugespitzt, aber immer nur einen Moment lang, bis es immer, immer weitergeht. Der schnelle, nachgerade musikalisch strukturierte Rhythmus treibt alle Protagonist*innen stetig voran, in immer neue Konfrontationen, ohne einander jemals aus dem Weg gehen zu können, und die horriblen Lücken darin klaffen dann spürbar auf, wenn die Grenzen der zivilisatorisch erwarteten Konversation strapaziert werden. Dann sind Sticheleien unter Freund*innen und Familienangehörigen kein Spiel mehr, sondern offenbaren sich für einen kurzen Moment als todernst, gehen einen Schritt zu weit in ihrer Drastik, oder versäumen es, die soeben zugefügte Verletzung noch rechtzeitig als scherzhaft zu enthüllen. Die Protagonist*innen der Filme der Zürcher-Brüder duellieren sich nicht zum Spaß, sondern mit scharfen Klingen.
Ein paar Dialoge gibt es in „Das Mädchen und die Spinne“, mit denen dieser nie enden wollende, fein ziselierte Dauerkrieg mit seinen sich stetig verschiebenden Frontlinien zu kippen droht. Das sind die Augenblicke, in denen die Feindseligkeiten zwischen den Figuren so ganz unverhüllt an die Oberfläche kommen. Wenn die komplizierte Beziehung zwischen Lisa und Mara in offenen Streit mündet und die Figuren sich „fick dich“ sagen anstelle von ambivalenten, vermeintlich routiniert wegzulächelnden kleinen Boshaftigkeiten, dann droht der Film für Augenblicke, sein Geheimnis zu verlieren. Aber da die Musik weiterspielt und der Strom der Bewegungen und der Gespräche sie auch aus diesen Gesprächen rasch wieder heraus- und in neue Abgründigkeiten hineintreibt, kippt der Film nicht, sondern bleibt bis zum Schluss ungemein dicht und mitreißend. „Wir müssen nur aufpassen, dass es nicht zuviel wird“, heißt es einmal im Dialog, und dann weiter: „Ja, aber auch nicht zu wenig.“
Immer steht jemand zwei Sekunden zu früh im Türrahmen...
Abschließend bleibt noch die Frage, wie es sich eigentlich mit den Tieren verhält, die nicht nur in den Titeln der Zürcher-Filme omnipräsent sind, sondern stetig zwischen dem Ensemble herumwirbeln, bellen, jaulen, kratzen, schnurren, wie Agenten der Autonomie zwischen den menschlichen Protagonist*innen. Und wer ist hier eigentlich das Mädchen – schließlich gibt es (mindestens) zwei zur Auswahl? Und ist die Spinne wirklich bloß das kleine Krabbeltier, das flink über Wohnungswände und die Arme von Lisa und Mara läuft? Oder ist auch Mara eine Art Spinne, die mit aller Macht versucht, die sie umgebenden Menschen in ihrem Netz festzuhalten? Und was ist mit der anderen Mitbewohnerin Nora, die ihr Zimmer nie verlässt, den ganzen Tag im Bett verbringt und nur darauf wartet, dass Mara ihr ihren Verehrer Jan zuführt, damit sie mit ihm schlafen kann?
Nora, so heißt es einmal, könne ihr Zimmer nicht verlassen, da sie keine Haut habe. Sie sei sehr allein und sehne sich nach Menschen, aber sie verschmelze viel zu schnell mit ihnen, so wie flüssige Lava. Vielleicht ist das die eigentliche schwarze Spinne, die lauernd im Zentrum des mit filigransten Fäden gesponnenen Netzes dieses umwerfenden Films hockt: die panische Angst vor der Einsamkeit, die uns immer wieder hinaustreibt in den reißenden Strom des Gewusels und Geredes da draußen, mit all den Menschen, die wir brauchen und hassen, oftmals gleichzeitig.
Fazit: Auf ein geniales Debüt folgt ein ebenso umwerfender zweiter Film. Die Schweizer Brüder Ramon und Silvan Zürcher entwickeln ihre unverwechselbare Regiehandschrift weiter, ohne ihre Eigenart zu verlieren, und so gelingt ihnen ein mitreißend-abgründiger Ensemblefilm.
Wir haben „Das Mädchen und die Spinne“ im Rahmen der Berlinale 2021 gesehen, wo er in den Wettbewerb der Reihe Encounters eingeladen wurde.