„The Fall of the Marvel Empire“
Nichts is für die Ewigkeit, schon gar nicht Imperien. Für den historisch Bewanderten ist das natürlich lediglich eine Binsenweisheit, für den Popkultur-Nerd aber womöglich ein fieser Tiefschlag. Nicht dass es keine Anzeichen für die Implosion des geliebten MCU gegeben hätte. Nachdem man in einem Siegeszug ohnegleichen binnen 20 Jahren und 22 Filmen die globale Kinolandschaft im Sturm genommen hatte und sich im hauseigenen Superbowl, auch bekannt als "Avengers: Endgame", die Legendenkrone aufgesetzt hatte, schien die Pax Marvelana angebrochen. Und so träumte Imperator Kevin Feige von einer nimmer enden wollenden Regentschaft seiner Superhelden und verkündete großspurige Pläne für kommende Dekaden. Nun, Hochmut kommt vor dem Fall, wieder so eine Binsenweisheit, aber eine nicht minder gültige für die erfolgsverwöhnte Comicfilmschmiede. Einnahmen und Zuschauerinteresse befinden sich seit dem besagten Endspiel im freien Fall, gelegentliche Ausreißer durch altgediente Heroen sind da bestenfalls kosmetischer Natur und ändern nichts am Abwärtstrend. Und damit kommen wir zur finalen Binsenweisheit: die Hoffnung stirbt zuletzt.
270 Millionen Dollar lies sich der Mäusekonzern die Finanzierung des 33. Marvel-Films kosten. Wer die Gewinnmargen der Branche ein wenig kennt, weiß um die Ambitioniertheit dieser Investition. Immerhin trägt „The Marvels“ nicht nur den Firmennamen im Titel, sondern ist auch noch die unmittelbare Fortsetzung eines der erfolgreichsten Solofilme des MCU. Unglaubliche $1,1 Milliarden spülte „Captain Marvel“ seinerzeit (2019) in die prall gefüllten Kassen und das obwohl selbst Fans die Story als zu generisch kritisierten und mit Brie Larsons kühler Heldinnenvorstellung nie so recht warm wurden. Immerhin ruht die Verantwortung diesmal auf drein starken Frauenschultern, denn neben Carol Danvers alias Captain Marvel dürfen auch ihr juveniler Superfan Kamala Khan sowie Super-Astronautin Monica Rambeau gegen die Mächte der Finsternis antreten.
DerTeamgedanke gehört gewissermaßen zur DNA des MCU, ist hier aber Segen und Fluch zugleich. Auf emotionaler Ebene ist das Powerfrauen-Trio definitiv ein Gewinn. Gerade für die im ersten Film sehr unnahbare Carol Danvers. So darf Brie Larson sowohl die komische wie auch die traurige Seite ihrer Figur ausloten. Während das Aufeinandertreffen mit ihrem Teenager-Fangirl Kamala Khan, die ihr ganzes Zimmer mit Captain Marvel Devotionalien vollgestopft hat, sorgt für diverse Lacher und Situationskomik sorgt, zeigt die unerwartete Begegnung mit der Tochter ihrer verstorbenen besten Freundin eine verletzliche Superheldin, geplagt von schlechtem Gewissen und Reuegefühlen ob der Vernachlässigung ihrer Ziehtochter. Vor allem die Chemie zwischen Larson und Iman Vellani stimmt und schafft im Verbund mit der Marvelschen Spezialität der Metaisierung (Superheldenfan in einem Film für Superheldenfans) ein launiges Ping-Pong.
Das weibliche Helden-Triumvirat befeuert aber auch eine weitere Eigenheit vor allem der späteren Marvel-Filme, die mangelnde Fokussierung. Die an sich pfiffige Idee der miteinander verbundenen Kräfte - eine mystische Kraft sorgt dafür, dass die drei beim Einsetzten ihrer Fähigkeiten die Plätze tauschen und das unabhängig von ihrem jeweiligen Standpunkt im Universum - zeigt schnell Ermüdungserscheinungen, zumal den Machern außer dem offensichtlichen Gagpotential nicht viel einfällt. Nicht nur wird es sehr bald sehr beliebig wer gerade wen kloppt, das Plätzehopping hat keinerlei dramaturgische Relevanz im Sinne weiterer Verwicklungen oder Komplikationen. Nach dem Motto da haben wir doch eine dufte Idee, lass uns damit ein bißchen rumspielen.
Überhaupt ist das Storytelling mal wieder ein Schwachpunkt. Durch die Zerstörung der obersten Intelligenz der Kree hat Carol Danvers einen Bürgerkrieg herauf beschworen. Da ihr Heimatplanet unbewohnbar geworden ist, versucht die Anführerin Dar-Benn die fehlenden Ressourcen (Luft, Wasser, Sonnenenergie) von anderen Planeten zu stehlen, was, wir ahnen es schon, mal wieder die Stabilität des Universums gefährdet. Natürlich gibt es wieder ein mythisches Artefakt - diesmal in Form zweier Armreife (sogenannter „Quantum-Bänder“) - das unvorstellbare Kräfte besitzt wie das Öffnen von Sprungportalen im All. Da Dar-Benn nur eines ausgraben konnte und Kamala das Gegenstück besitzt sind die Fronten klar. Jedenfalls deutlich klarer als die sprunghafte und letztlich belanglose Geschichte drum herum.
Ohnehin dürfte einem der Kopf schwirren, wenn man die beiden Marvel-Serien „Ms Marvel“ und „WandaVision“ nicht gesehen hat, die viele Zusammenhänge um und über Carol Danvers Freundinnen verhandeln. Diese Arroganz seitens der Macher dürfte dem Studio im wahrsten Sinne noch teuer zu stehen kommen. „The Marvels“ ist in erster Linie ein Film für MCU-Experten und geht davon aus, dass die übrige Masse alles kauft auf dem das rote Logo prangt. Dass dem nicht mehr so ist, haben die letzten 10 Jahre gezeigt, womit sich zur Überheblichkeit auch noch ein fortschreitender Realitätsverlust gesellt.
Dennoch gibt es auch bei „The Marvels“ wieder handwerklich hochklassigen Eye-Candy und wem das genügt, muss sich über das Ticket nicht ärgern. Die $270 Millionen sind erkennbar in CGI-Schmieden geflossen, die sich beim Erschaffen kunterbunter Fantasy-Welten mal wieder so richtig austoben durften. Das ist nett anzusehen, aber erstens reißt das nach 32 Marvel-Filmen und fast ebenso vielen der DC-Konkurrenz keinen mehr aus dem Premium Reclyner und zweitens nützen die exklusivsten Exterieurs nichts, wenn die Interieurs (Figuren und Handlung) von der Stange kommen.
Bleibt noch der Ton. Seit den Erfolgen von Taika Waititi mit Thor und James Gunn mit den Guardians of the Galaxy meint man erkannt zu haben, dass bonbonfarbene Absurditäten das Salz in der immer schaler werdenden Superheldensuppe sind. Anders ist die Einlage mit dem Wasserplaneten nicht zu erklären, auf dem alle Bewohner nicht nur optisch der letzten Bollywood-Produktion entsprungen scheinen, sondern sich auch leider so verhalten. Denn dort spricht man nicht miteinander, man singt und tanzt sich an um zu kommunizieren. Das klingt tatsächlich genauso bescheuert wie es sich im Film ansieht und sorgt für wellenförmige Frenmdschämattacken. Zweierlei wird jedenfalls sehr schnell deutlich: Brise Larson sollte Musicals meiden und Regisseurin Nia DaCosta sollte bei ihren dramatischen Leisten bleiben. Für schrägen Humor braucht es Gespür und Timing sowie eine in der Persönlichkeit angelegte Affinität. Bei DaCosta herrscht hier leider dreifache Ebbe. Fairerweise muss man zugeben, dass die tonalen Sprünge in den beiden letzten Abenteuern von Waititi („Thor - Love and Thunder“) und Gunn („Guardians of the Galaxy Vol. 3“) die ein oder andere Dissonanz erzeugten, aber so peinlich wie die krude Mischung aus Cirque du Soleil und Abba - The Musical in „The Marvels“ wird es nie.
„The Fall of the Marvel Empire“ wird also auch von der hauseigenen Girlsgroup „The Marvels“ nicht verzögert und schon gar nicht verhindert werden können. Die zuletzt kultivierte Mischung aus Saturiertheit, Arroganz, Repetition und Ideenarmut durchzieht auch das 33. Marvel-Abenteuer und ist ein neuerliches Symbol für ein Genre im Niedergang. Als nachmittägliche Bespaßung für das juvenile Zielpublikum mag das noch genügen, für den hehren Anspruch und das Selbstverständnis einer popkulturellen Urgewalt ist das aber deutlich zu wenig. Noch sind die Kassen prall gefüllt, noch sind die großen Namen interessiert und noch hält das Stammpersonal der Marke die Treue. Der beste Zeitpunkt zum Aufhören wurde verpasst, aber anders als für historische Imperien ist der Ausstieg jederzeit nach wie vor möglich. Natürlich ist das Wunschdenken. Die unweigerlichen After-Credit-Szenen sprechen eine andere Sprache. Offenbar meint man mit einer Verjüngungskur zur alten Combo-Glorie zurück kehren zu können. Wie war noch einmal die letzte Binsenweisheit?