Die Wunden des Krieges und die Last der Frauen -
In Leningrad (St. Petersburg) sind im Herbst 1945 die Wunden des Krieges noch sichtbar: Ija, die aufgrund ihrer Größe und des schlaksigen Körpers oft "Bohnenstange" genannt wird, arbeitet als Krankenschwester in einem Militärhospital, wo schwer verwundete Kriegsheimkehrer behandelt werden. Privat versorgt sie den kleinen Pascha, der allerdings nicht ihr eigenes Kind, sondern der Sohn ihrer Freundin Mascha ist, die sich bis zuletzt an der Front befand. Nun kehrt auch Mascha heim und fortan teilen sich die beiden Frauen das Zimmer in einer Wohnung, in der zahlreiche Personen zusammen leben. Beide Frauen sind ebenfalls verwundet: Ija erstarrt von Zeit zu Zeit wegen einer posttraumatischen Störung und einer Kopfverletzung. Dann nimmt sie ihre Umgebung nur noch gedämpft wahr und kann sich nicht bewegen. In dieser Situation ereignet sich auch ein tödlicher Unfall. Mascha wiederum ist so erschöpft, dass ihr selbst leichteren Arbeiten auf Dauer schwer fallen. Wie macht man mit diesen Wunden weiter, wenn Normalität noch kaum erreicht ist? Was ist ein realistischer Blick in die Zukunft in dieser Situation? Die psychischen Wunden, auch bei den Soldaten im Hospital, sind oft gravierender als die offen sichtbaren. Für manche gibt es kein zurück ins Leben, andere - wie Ija und Mascha - müssen Leben neu lernen.
Der noch junge Regisseur Kantemir Balagow inszeniert die Geschichte der beiden Frauen mit langen Einstellungen, mit sehr gut ausgearbeiteten Bilder, die Gemälden gleichen. Die Kamera verweilt oft lange auf den schweigenden Gesichtern und lässt die Bilder wirken. Auch die Farbgebung ist sehr bewusst gewählt: Während die strohblonde Ija vielfach grün trägt, ist die rothaarige Mascha mit der Farbe Rot gekennzeichnet, im Laufe des Films vermischen sich diese Farbgebungen zwischen den beiden Personen immer mehr. Männer sind zwar Bezugspersonen, z. B. der leitende Arzt Nikolaj Iwanowitsch oder der sich Mascha annähernde junge Sascha, bleiben aber Nebenfiguren. Auch die im stalinistischen Russland weiter bestehenden Klassengegensätze werden thematisiert und in bestechenden Dialogen zugespitzt.
"Bohnenstange" ist ein eindrücklicher Film aus der unmittelbaren russischen Nachkriegszeit, der sich ganz auf seine beiden (großartig gespielten) weiblichen Hauptfiguren verlässt und mit einer langsamen, aber sehr konzentrierten Inszenierung und toller Kameraarbeit großes Kino über Verletzungen, Neuorientierungen und den Mut, neu anzufangen, bietet, welches Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit verlangt.
Auf dem Filmfestival von Cannes 2019 erhielt "Bohnenstange" in der Sektion "Un Certain Regard" den Preis für die Beste Regie und den FIPRESCI-Preis.