Großes Kino auf Netflix
Von Björn Becher2018 sagten die renommierten Filmfestspiele von Cannes Netflix den Kampf an. Das Geschäftsmodell des Streamingdienstes widerspreche der Idee des Festivals, wo das Kino gefeiert werden soll, das Filmerlebnis auf großer Leinwand mit gleichgesinnten Cinephilen, anstatt das Schauen zuhause auf kleinem Bildschirm alleine oder mit wenigen Leuten. Nach zwei Jahren ohne Netflix-Film im Programm war für 2020 trotzdem eine Ausnahme geplant: Spike Lees „Da 5 Bloods“ sollte auf dem wohl bekanntesten Filmfestival der Welt seine Weltpremiere feiern – was aber Corona-bedingt ins Wasser fiel.
Warum die französischen Kino-Liebhaber plötzlich wieder von ihrem Boykott abkehren wollten, wird schnell klar, wenn man sich „Da 5 Bloods“ anschaut. Wie kaum ein anderer Spike-Lee-Film schreit das gesamte Kriegs-Abenteuer-Thriller-Drama förmlich nach Kino. In seiner zweiten Arbeit für den Streaminggiganten (nach der auf seinem Leinwanddebüt basierenden Serie „Nola Darling“) verbindet Lee so viele Themen und Ideen, dass „Da 5 Bloods“ an allen Seiten überquillt und es damit das bekannte Netflix-Problem der Überlänge gibt. Doch Spike Lees mehr als zweieinhalb Stunden langer Film ist eben so gekonnt, dynamisch und kraftvoll, dass die Laufzeit am Ende kein Malus ist.
Schatzsuche in "Da 5 Bloods"
Jahrzehnte nach dem Krieg in Vietnam kehren die Veteranen Paul (Delroy Lindo), Otis (Clarke Peters), Eddie (Norm Lewis) und Melvin (Isiah „Shiiiiiit“ Whitlock Jr.) in das Land zurück. Offiziell wollen sie dort den Leichnam ihres damals gefallenen Kameraden Norman (Chadwick Boseman) bergen, in Wahrheit sind sie aber auch noch hinter dem Goldschatz her, den sie damals im Dschungel mit seiner Leiche verscharrt haben. Sehr zum Ärger der Rentnerbande schließt sich ihnen noch Pauls Sohn David (Jonathan Majors) an, der seinem Vater auf die Schliche gekommen ist und sich zudem berechtigte Sorgen um ihn macht…
Spike Lee steigt in „Da 5 Bloods“ mit der berühmten Pressekonferenz von Muhammad Ali ein, bei der dieser in markigen Worten erklärte, warum er den Kriegsdienst in Vietnam verweigert, und stellt anschließend weitere historische Aufnahmen gegenüber: die von Schwarzen Soldaten in Vietnam und die von gleichzeitig in den USA für mehr Freiheit demonstrierenden Landsmännern. Und wie in „BlackKklansman“ schlägt er am Ende natürlich die Brücke zur Gegenwart.
Wie schon bei Spike Lees vorherigem, oscarprämierten Spielfilm ist damit auch dieses Mal die wütende Anklage des Begründers des sogenannten New Black Cinema zu spüren. Lee ist in den vergangenen Jahren noch einmal lauter geworden, hat nach einer flaueren Phase mit Filmen wie dem „Oldboy“-Remake wieder die Kraft, die ihn bei seinem Kult-Frühwerk wie „Do The Right Thing“ oder seinen längst ebenfalls zum großen Filmkanon gehörenden 9/11-Drama „25 Stunden“ auszeichnete.
Letzte Party vor dem Dschungel...
Noch stärker als in „BlackKklansman“ verbindet Lee seine Erzählung über Leiden und Schuld Schwarzer Amerikaner aber mit Genre-Kino. Statt Humor gibt es hier vor allem Spannung, dazu aber auch einen großen Streifzug durch die Geschichte billiger und teurer Kriegsfilme, einen Streifzug durch Schund und Klassiker. Da muss auch Raum sein, um sich über die „Rambo“-Sequels lustig zu machen, eine legendäre „Platoon“-Sequenz spöttisch nachzustellen oder den Walkürenritt aus „Apocalypse Now“ zu entmystifizieren.
Dazu gehört auch die nur auf den ersten Blick ungewöhnliche (und auch kostenbedingte) Entscheidung, die vier alten Hauptdarsteller in den Rückblenden auch einfach ihre jüngeren Versionen spielen zu lassen – und zwar (abgesehen von einer Fotografie) ohne Verjüngungseffekte à la „The Irishman“. Dass es dann die alten Männer sind, die sich Feuergefechte mit dem Vietcong liefern, macht aber echt Sinn, weil eben schnell klar wird, dass es keine faktischen Rückblenden sind, sondern gefärbte Erinnerungen der Veteranen, die sich selbst in die Vergangenheit zurückversetzen.
Deswegen erscheint auch der gefallene Kamerad Stormin‘ Norman darin wie ein Gott, mit der Kamera auch immer wieder von leicht unten gefilmt, um zusätzlich noch größer zu wirken. Auf dem Bildschirm wird so genau jenes verklärte Bild präsentiert, das sich auch in den Gesprächen der alten Veteranen über ihren toten Freund und Anführer findet, über den sie immer wieder extrem ehrfürchtig reden. Passend dazu wirken die blutigen Feuergefechte und die platten Dialoge in diesen träumerischen Einschüben mehr wie die Gemetzel und Sprüche billiger B-Movies.
Bei diesen Sprüngen zurück in den Krieg wechselt Spike Lee auch das Bildformat. Statt breiter Kinobilder bekommen wir ein enges Fernsehformat und so wirkt das Geschehen noch mehr wie all die simpel gestrickten 80er-Vietnam-Metzel-Actioner mit Chuck Norris, Michael Dudikoff und Co., die damals vor allem auf Videokassette und 4:3-Röhrenfernseher konsumiert wurden. Paul, Otis und Co. basteln sich ihre eigenen Billig-Actionfilme im Kopf, wenn sie an Vietnam denken. Da hat es dann auch Sinn, dass nur die Gesichter auf der Fotografie (das einzige „echte“ Bild von damals) digital verjüngt wurden.
Auch in den Rückblenden alte Kerle...
„Da 5 Bloods“ verweist auch offensichtlich auf John Hustons großes Goldgier-Abenteuer „Der Schatz der Sierra Madre“, auf den das ursprüngliche Drehbuch von Danny Bilson und Paul De Meo („Rocketeer“) wohl noch deutlicher Bezug nahm. Nachdem eine Umsetzung von Oliver Stone scheiterte, schlug Spike Lee zu, weil der Klassiker zu seinen Lieblingsfilmen zählt. Gemeinsam mit „BlacKkKlansman“-Co-Autor Kevin Willmott behielt er die Stärken des Vorbilds „Sierra Madre“ bei, machte aus den weißen Hauptfiguren aber Schwarze und gestalteten die Geschichte deutlich komplexer.
Obwohl also das Veteranen-Quartett selbst unter Rassismus litt, verhalten sich die Männer auch selbst rassistisch. Vor allem Paul vermutet hinter jedem Vietnamesen einen alten Feind oder einen Verbrecher und ist bald überzeugt, dass selbst seine Kumpels ihn um sein Gold bringen wollen. Die schon bei Huston verderbende Kraft der Gier nach Gold frisst sich nun auch über 70 Jahre später bei Lee durch die Gruppe, macht aus den anfangs eng verbundenen Männern bald potentielle Kontrahenten.
Spike Lee gelingt es nicht nur durch Misstrauen und Konflikt, geschickt die Spannung hochzuhalten. In bester Hitchcock-Manier verschafft er dem Zuschauer mehrfach einen Wissensvorsprung, um den daraus resultierenden Suspense-Moment wunderbar lange auszukosten. Da trifft zum Beispiel David in einer Bar auf die Französin Hedy (Mélanie Thierry), die gemeinsam mit ihren Partnern (Paul Walter Hauser / Jasper Pääkkönen) alte Minen aus Kriegszeiten entschärft (was David den alten Veteranen aber nicht erzählt, weil er es wahrscheinlich direkt wieder vergessen hat). Es braucht nicht mehr als den kurzen Flirt und das gemeinsame Bier, um dem Zuschauer mitzugeben: Da liegen verdammt viele Minen im Dschungel.
Ab diesem Moment schwingt Unbehagen mit bei jedem Schritt, den die vier ahnungslosen Veteranen und ihr junger Begleiter David durch das Dickicht machen. Bei jedem Stochern nach dem Gold im Boden steigt die Anspannung, wird sich auf die Lippe gebissen oder es wird an den Rand der Couch gerutscht. Meisterhaft macht Lee unmissverständlich klar: Es wird etwas passieren, doch wann, ist offen. Es kann jederzeit der Fall sein.
Misstrauen unter Freunden.
Obwohl er mit all dem schon mehr bietet, als andere Regisseure in drei Filmen, steckt Spike Lee noch viel mehr in „Da 5 Bloods“. Als Radio-DJ der nordvietnamesischen Propaganda lässt er zum Beispiel die aus „Star Wars 8“ bekannte Veronica Ngo auftreten. Sie sendet Botschaften, die damals eingesetzt wurden, in der Hoffnung den Kampfgeist der US-Soldaten zu untergraben, moderiert aber gleichzeitig den Soundtrack des Films an. Zudem versorgt er auch noch die Veteranen mit persönlichen Geschichten, denen sie sich stellen müssen. „The Wire“-Legende Clarke Peters bekommt damit in einem Dinner mit überraschendem Gast einen von mehreren unglaublich emotionalen Momenten beschert.
Ohnehin sind die Darsteller, zu denen unter anderem noch Jean Reno („Léon – Der Profi“) als schmieriger französischer Geschäftsmann und Johnny Trí Nguyễn („Revenge Of The Warrior“) als einheimischer Fremdenführer gehören, ein weiteres Prunkstück von „Da 5 Bloods“. Dies trifft vor allem auf Delroy Lindo zu, der den von Paranoia und Schuldgefühlen geplagten, Trump verehrenden und MAGA-Kappe tragenden Paul sensationell anlegt. Laut frühen Berichten zum Projekt war angeblich mal Samuel L. Jackson im Gespräch, doch so großartig der Nick-Fury-Darsteller ist, war es wohl die bessere Entscheidung von Spike Lee, nach drei gemeinsamen Filmen in den 90ern zum vierten Mal mit dem Briten Lindo zu arbeiten.
Denn Jacksons besondere Aura, das Überlebensgroße, das mittlerweile fast alle seine Figuren umgibt, wäre für den Part des Paul womöglich schädlich gewesen. Lindo, den Lee selbst auch als erste und einzige Wahl für die Rolle bezeichnet, verbindet große Gesten mit kleinen Brücken, lässt uns diesen fest auf die Überlegenheit Amerikas pochenden, vom Gold wie vom Hass geblendeten Mann ablehnen, um gleichzeitig aber trotzdem mit seiner Schuld und seiner schwierigen Beziehung zu seinem Sohn zu leiden und so am Ende Sympathien zu dem unsympathischen Paul aufzubauen. Schon jetzt gehört Lindos Leistung zu den besten Schauspieldarbietungen in diesem Jahr, was zu einer Oscarnominierung führen könnte.
Diese (aufgrund einer Corona-bedingten Ausnahmeregelung auch ohne Kinostart mögliche) Goldjungen-Kür hätte übrigens auch Newton Thomas Sigel verdient. Der „Drive“-, „Extraction“- und „Bohemian Rhapsody“-Kameramann, der einst übrigens schon den inhaltlich leicht verwandten „Three Kings“ bebilderte, meistert nicht nur die Wechsel zwischen verschiedenen Formaten und Kameras. Immer wieder sticht seine Bildgestaltung heraus – und zwar nicht nur bei kräftigen Landschaftsaufnahmen, sondern auch bei den vielen Kamerafahrten, bei denen wir uns mit den Figuren bewegen.
Am Ende mag all das, was in „Da 5 Bloods“ steckt, vielleicht ein wenig zu viel sein. Schon kürzlich in unserer Kritik zum Netflix-Krimi-Flop „The Last Days Of American Crime“ verwiesen wir darauf, dass die völlige Freiheit, die Regisseure beim Streaming-Riesen genießen, auch Fluch sein kann. Denn das eine oder andere Mal ist es doch ganz gut, wenn ein Produzent noch mal über einen Film schaut und zumindest die Frage aufwirft, ob das Werk wirklich über zweieinhalb Stunden lang sein muss. Die eine oder andere Szene hätte auch bei „Da 5 Bloods“ gekürzt werden können, doch am Ende ist alles so kraftvoll und mitreißend, dass die kleinen Längen kaum eine Rolle spielen.
Fazit: Spannend, bewegend und viel, viel mehr. „Da 5 Bloods“ ist richtig großes und starkes Kino – nur eben auf Netflix!