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    Die Schneegesellschaft
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Die Schneegesellschaft

    Netflix‘ Survival-Blockbuster gerät etwas zu zahm

    Von Björn Becher

    Es ist schon ziemlich fies, „Die Schneegesellschaft“ ausgerechnet als Abschlussfilm des Filmfestival Venedig zu programmieren – in dem Wissen, dass ein großer Teil des Publikums wenige Stunden später in einen Flieger steigen wird. Schließlich das tragische Schicksal der 1972 über den Anden abgestürzten uruguayischen Rugby-Mannschaft längst legendär – und ein fester Bestandteil der Popkultur: Stephen King ließ etwa seinen durchdrehenden Protagonisten Jack Torrance in „The Shining“ darauf verweisen! Aber während sich „Rick und Morty“ heutzutage wagt, eine bitterböse Parodie auf die damaligen Ereignisse abzuliefern, drückte sich Hollywood sehr lange um eine Verfilmung. Schließlich retteten sich Abgestürzten eben auch, indem sie ihre toten Schicksalsgenossen verspeisten.

    Erst 20 Jahre nach den Ereignissen drehte „Die Verurteilten“-Regisseur Frank Marshall mit John Malkovich als Erzähler und Ethan Hawke als Hauptdarsteller die Hollywood-Version des Stoffes: „Überleben!“. Weitere 30 Jahre hielt Netflix die Zeit reif für eine Neuerzählung – und zwar diesmal in Form einer südamerikanischen Produktion: J.A. Bayona, der mit „The Impossible“ bereits eine reale Katastrophe fürs Kino verarbeitet hat, verzichtet in seiner spanischsprachigen Verfilmung komplett auf Stars. Stattdessen ist er sichtlich darum bemüht, allen Abgestürzten gleichermaßen ein Denkmal zu setzen. Die daraus resultierende Austauschbarkeit der Figuren schadet allerdings seinem sonst durchaus mitreißenden Film – zumal das Thema Kannibalismus auch diesmal nur handzahm angegangen wird.

    Gezeichnet von 72 Tagen im Schnee: Die Überlebenden des „Wunder der Anden“.

    Am 12. Oktober 1972 startet eine Charter-Maschine in Uruguay mit dem Ziel Chile. An Bord sind fünf Besatzungsmitglieder und 40 Passagiere – ein großer Teil von ihnen Mitglieder des Rugby-Teams Old Christians, dazu einige Freund*innen und Familienmitglieder, die man aufgrund des günstigen Preises von nur 45 Dollar überzeugen konnte, die Mannschaft ein paar Tage zu begleiten. Doch der Flug geht über die gefährlichen Anden und dort kommt es zur Katastrophe. Die Maschine stürzt ab.

    Die 29 Überlebenden des Absturzes haben zu Beginn noch Hoffnung auf eine schnelle Rettung. Verletzte werden versorgt, das Gepäck nach Brauchbarem durchsucht, Vorräte rationalisiert, nach den in der Ferne vorbei ziehenden Suchflugzeugen gerufen. Doch die in den Winter-Nächten rapide sinkenden Temperaturen fordern bald weitere Opfer und das wenige Essen ist schnell aufgebraucht. Eine schwere Entscheidung muss getroffen werden, zumal ein repariertes Radio bald die Nachricht überbringt, dass die Suchaktion bereits eingestellt wurde. Schließlich gab es bei bislang 34 Abstürzen in den Anden noch nie auch nur eine einzige Person, die lebend geborgen wurde...

    Ein Denkmal für alle (!) 45 an Bord

    Schon Frank Marshall wollte 1993 alle Überlebenden gleichermaßen ehren und nicht zu sehr einzelne in den Vordergrund rücken. Bayona geht nun noch einen Schritt weiter: „Die Schneegesellschaft“ setzt allen 45 Insass*innen der Maschine, also auch jenen, die direkt beim Crash gestorben sind, buchstäblich Denkmäler. Wenn nach dem Absturz die Leichen außer Sicht gebracht werden, informiert uns eine Texteinblendung über Namen und Alter jeder einzelnen Person. Das wiederholt Bayona auch später, wenn weitere Tote folgen. Wenn es am Ende zur Rettung der Überlebenden kommt, wird sogar doppelt übermittelt, wie jeder einzelne heißt.

    Dieser Ansatz ist aller Ehren wert. Aber weil Bayona nur dann einzelne Personen in den Vordergrund rückt, wenn es sich nicht anders vermeiden lässt, bleiben die um ihr Überleben kämpfenden Menschen insgesamt recht profillos, werden größtenteils nur auf einzelne Fähigkeiten oder Handlungen reduziert (der Arzt, der Techniker, diejenigen, die das Fleisch von den Leichen schneiden). Fast keine Figur entwickelt so wirklich ein eigenes Profil. Psychologische Tiefe wird nur bei Ich-Erzähler Numa (Enzo Vogrincic) erreicht, der durch seinen Off-Kommentar zumindest einen gewissen Einblick in sein Inneres eröffnet.

    Nach und nach scheint auch noch der letzte Funken Hoffnung zu erlöschen…

    Vor allem die psychischen Auswirkungen der schweren Entscheidung, zu Kannibalen zu werden, unterschlägt der Regisseur fast völlig. Als das Thema zum ersten Mal aufkommt, wollen viele noch nichts davon wissen. Als damit begonnen wird, andere zu essen, machen einige wie Numa zuerst nicht mit, lassen die anderen aber gewähren. Hier thematisiert Bayona, wie einfach es für die meisten zu Beginn ist, die Augen zu verschließen. Schließlich kümmern sich die Cousins Eduardo (Rafael Federman) und Fito Strauch (Esteban Kukuriczka) außerhalb von Sicht- und Hörweite um die „Fleischbeschaffung. Als das plötzlich nicht mehr möglich ist, vergibt Bayona dann aber explizit die große Chance, die trotz ihrer Alternativlosigkeit so erschütternde Tat auch zu illustrieren:

    Nachdem die Gruppe durch eine Lawine weiter dezimiert wird, sind die Überlebenden für mehrere Tage im Flugzeug eingeschlossen. Plötzlich können die Strauchs nicht mehr außer Sichtweite für Nahrung sorgen – es muss vor den Augen aller geschehen. Doch statt nun zumindest für einen kurzen Moment grafisch zu werden, bleibt Bayona ausgesprochen zahm. Numa darf im Off-Kommentar zwar behaupten, dass es nun plötzlich viel erschütternder als vorher war. Er selbst kann das Fleisch nun auch nicht mehr essen. Doch es taucht eigentlich trotzdem weiter wie von Zauberhand auf, weil Bayona nichts zeigen will (außer Fleischfetzen, die aber auch von einem Hühnchen stammen könnten).

    Bayona kann auch intensiv

    Man kann Bayona ganz sicher nicht vorwerfen, dass er den damals zuerst für einen großen öffentlichen Aufschrei sorgen Kannibalismus-Aspekt verschweigen will. Schließlich thematisiert ihn Off-Erzähler Numa in seinen Worten regelmäßig. Durch die zahme Inszenierung wirkt er trotzdem ein wenig heruntergespielt. Das ist schade, wo es doch fester Bestandteil der Geschichte und absolut essentiell für das Überleben war. Dabei versteht sich der mit „Jurassic World 2: Das gefallene Königreich“ auch Blockbuster-erfahrene Filmemacher durchaus auf intensive Szene, wie er auch hier mehrfach eindrucksvoll unter Beweis stellt:

    Vor allem der Absturz der Maschine ist eindrucksvoll inszeniert. Trotz sichtbarer CGI-Unterstützung vermittelt Bayona gelungen einen Eindruck von den Kräften, die hier am Werk sind, als erst der hinter Teil der Maschine wegbricht und dann beim plötzlichen Abbremsen der Maschine alles zusammengedrückt wird (da Bersten die Köpfe, Knochen und Knöchelgelenke). Hier wie auch beim späteren Lawinenniedergang ist die Kamera ganz nah an den Figuren und so mitten im Chaos. Bayona schafft es gekonnt, die Panik und Verwirrung auf das Publikum zu übertragen, so die Dramatik des Moments besonders eindrücklich spürbar zu machen.

    Ohnehin versteht es der Filmemacher immer wieder gekonnt, uns zu emotionalisieren. Wie in „Überleben!“ verschweigt er zwar, dass die Rettungsmission am Ende auch noch ein paar Probleme und dramatische Momente hatte – aber das ist egal, weil man in diesem Moment nur froh ist, dass das Martyrium vorbei ist. Schön ist auch, wie er in kleinen Szenen immer wieder die Pfiffigkeit der Gruppe herausstellt. Da werden Flugzeugteile genutzt, um sich Brillen zu bauen, die gegen Schneeblindheit schützen – und auch ein selbstgebastelter, überdimensionierter Kälteschlafsack spielt eine entscheidende Rolle.

    Fazit: „Jurassic World 2“-Regisseur Juan Antonio Bayona und Netflix verfilmen das legendäre „Wunder der Anden“ noch einmal neu – als zwar immer wieder mitreißend inszeniertes, aber auch etwas zu zahmes Survival-Drama.

    Wir haben „Die Schneegesellschaft“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er als Abschlussfilm außer Konkurrenz im offiziellen Programm seine Weltpremiere gefeiert hat.

     

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