Starkes Buch, schwacher Film
Von Christoph PetersenDie 2016 erschienene Novelle „Die Polizisten“ des französischen Autors Hugo Boris handelt von drei Pariser Beamten, die am Ende ihrer langen Schicht einen Flüchtling zum Flughafen fahren müssen, von wo aus er – womöglich in den sicheren Tod – abgeschoben werden soll. Selbst für die erfahrenen Polizisten eine psychische, körperliche und ethische Ausnahmesituation: Sie belauern sich in dem engen Wagen, versuchen auszuloten, was die anderen denken, zu was sie bereit sind, während zugleich auch verschiedenste private Probleme in die Entscheidungen hineinspielen. Die Französin Anne Fontaine hat das Buch nun verfilmt, in Deutschland trägt das moralische Drama den passend-doppeldeutigen Titel „Bis an die Grenze“. Allerdings hat sich die „Coco Chanel“-Regisseurin dagegen entscheiden, aus dem Road Roman auch ein Road Movie zu machen – und das erweist sich leider als krasse Fehlentscheidung.
Virginia ist von Aristide schwanger – schon am nächsten Tag soll die Abtreibung stattfinden.
Die Polizistin Virginie (Virginie Efira) ist schwanger. Allerdings nicht von ihrem Mann, mit dem sie bereits ein 18 Monate altes Baby hat, sondern von ihrem ebenso sympathischen wie sprunghaften Kollegen Aristide (Omar Sy). Am nächsten Tag soll die Abtreibung stattfinden, weshalb Virginie am Ende einer anstrengenden Schicht spontan einwilligt, noch an einem Sondereinsatz teilzunehmen – alles, um nur nicht mit dem schlechten Gewissen zu ihrer Familie nach Hause gehen zu müssen.
Allerdings erweist sich der Einsatz nur als weitere moralische Ausnahmesituation: Der Flüchtling Tohirov (Payman Maadi) soll in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Tadschikistan abgeschoben werden, bevor der Europäische Gerichtshof über sein Verfahren entscheiden kann. Als Virginia entgegen den Regeln den Umschlag mit seiner Akte öffnet, entdeckt sie darin gute Gründe, warum Tohirov auf keinen Fall abgeschoben werden sollte. Gemeinsam mit Aristide und ihrem sich sonst immer penibel an die Regeln haltenden, aber gerade in einer schweren Ehekrisen steckenden Vorgesetzten Erik (Grégory Gadebois) muss sie entscheiden, was nun mit dem kein Wort Französisch oder Englisch sprechenden, völlig verängstigten Mann auf der Rückbank geschehen soll…
In der Verfilmung beginnt die Fahrt zum Flughafen nach etwa einer Stunde. Bis dahin erlebt der Zuschauer erst einmal die vorangegangene Schicht der Polizisten mit – und zwar gleich drei Mal, jeweils aus der Sicht von Virginie, Aristide und Erik. Das ist sicherlich kein neues, aber ein potenziell spannendes Konzept: Indem man dieselben Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven präsentiert, die ein wenig voneinander abweichen oder sich ergänzen, erschließen sich gerade durch die Wiederholung und Variation neue Erkenntnisse. Aber nicht so in „Bis an die Grenze“. Die Abweichungen sind hier dermaßen marginal, dass man im zweiten und dritten Durchgang kaum noch etwas großartig Neues erfährt.
Zudem zeichnet Anne Fontaine nicht nur ihre Figuren, sondern auch die Strapazen des Polizeialltags mit ganz dicken Pinselstrichen. Die zwei zentralen Einsätze sind ein ebenso krasser wie klischeehafter Fall von häuslicher Gewalt, bei dem sich die geschlagene Frau schließlich doch auf die Seite ihres Peinigers stellt, sowie ein Baby, das von einer Frau, die penetrant darauf besteht, doch „keine schlechte Mutter“ zu sein, zur Beruhigung in eine Tiefkühltruhe gesteckt wurde. „Bis an die Grenze“ soll auch Verständnis für Polizisten und ihren ständigen psychischen Ausnahmezustand wecken – aber die konkreten Einsätze sind hier so exakt darauf zugeschnitten, einen ganz bestimmten Punkt zu machen, dass genau das Gegenteil davon erreicht wird.
Die ganz klar besten Szenen des Films spielen im Polizeiwagen auf dem Weg zum Flughafen.
Trotz der verkorksten Einführung von Protagonisten und Polizeiarbeit erweist sich die anschließende Fahrt zum Abschiebeterminal als intensiver Höhepunkt. In der Enge des Wagens gibt es ständig kleinere und größere Verschiebungen der Loyalitäten: Mal rast Aristide selbst über rote Ampeln, um eine Flucht von vorneherein auszuschließen, einige Augenkontakte mit Virginie später bleibt er jedoch sogar besonders lange an den Kreuzungen stehen, um dem Flüchtling das Abhauen schmackhaft zu machen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Tohirov ist nämlich derart verängstigt, dass er glaubt, dass seine Begleiter ihn nur deshalb eine solche Möglichkeit anbieten, um ihn auf der Flucht zu erschießen. Trotz dieses kurzen Einblicks in sein Innenleben bleibt der Flüchtling ein reiner dramaturgischer Motor ohne eigene Persönlichkeit - auch weil seine oft panischen rausgepressten Satzfetzen nicht untertitelt werden (die Polizisten verstehen ihn ja auch nicht).
Dass im Film Virginies Entschluss zur Abtreibung mit der Entscheidung über die Abschiebung in ein sehr enges und sehr direktes Verhältnis zueinander gesetzt werden, klingt im ersten Moment vielleicht plausibel, ist aber auch ganz schön zynisch. Solche ethischen Kurzschlüsse gibt es in „Bis an die Grenze“ leider einige – und zwar vor allem im Finale, wie man es in dieser Form eigentlich nur aus Hollywood-Komödien kennt, wo der romantische Held zum Flughafen hetzt, um einen geliebten Menschen gerade noch rechtzeitig am Abflug zu hindern. So wird der Film weder der Situation, den Figuren noch ihrer moralischen Zwangslage gerecht – und es bleibt dabei: „Bis an die Grenze“ überzeugt immer nur dann, wenn sich die Handlung – wie im zugrunde liegenden Roman – gerade im Auto abspielt.
Fazit: Regisseurin und Co-Drehbuchautorin Anne Fontaine hätte gut daran getan, mehr auf die auch strukturellen Stärken der Buchvorlage zu vertrauen – stattdessen ist aus einem durchweg aufwühlenden Roman ein Film geworden, der nur zwischendrin für eine halbe Stunde wirklich überzeugt.
Wir haben „Bis zur Grenze“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Berlinale Special gezeigt wurde.