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    The 355
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    The 355

    Die Welt ändert sich, aber die Klischees bleiben dieselben

    Von Nikolas Masin

    Nicht erst seit Daniel Craigs 007-Abschied werden die Stimmen für eine weibliche Bond immer lauter. Produzentin Barbara Broccoli möchte die ikonische Rolle allerdings auch zukünftig nicht an eine Schauspielerin vergeben. Stattdessen solle man lieber vergleichbare neue Figuren speziell für Frauen schaffen. Auch Daniel Craig teilt diese Meinung: „Warum sollte eine Frau James Bond spielen, wenn es eine Rolle für Frauen geben sollte, die genauso gut wäre?“ Über die Konjunktive „sollte“, „wäre“ und „müsste“ geht das Ganze bisher aber nicht wirklich hinaus. Agentenfilme mit weiblichen Protagonistinnen sind rar – und ins Kollektivbewusstsein hat sich seit der TV-Serie „Drei Engel für Charlie“ aus den Siebzigern in dieser Hinsicht sowieso nichts mehr eingebrannt.

    Mit „The 355“ kommt nun ein Agenten-Thriller, der gleich fünf (!) neue Agentinnen auf einmal vorstellt. Die lange Geschlechter-Aufholjagd wird so zwar beschleunigt, dafür hinterlässt aber keine der vielen Figuren großen Eindruck. Und das ist mehr als schade, wenn man bedenkt, worauf der zunächst so kryptische Titel des Ensemble-Films von Simon Kinberg („X-Men: Dark Phoenix“) anspielt: 355 war der Codename für eine der ersten US-Spioninnen während der Amerikanischen Revolution, deren wahre Identität bis heute nicht gelüftet ist – und laut Jessica Chastain, die das Projekt überhaupt erst angestoßen hat, ist „Code 355“ deshalb der universelle Slang-Begriff für die vielen „unsichtbaren Frauen ohne Namen“ in diversen realen Geheimdiensten. Lange erinnern wird man sich an die neuen Agentinnen aber wohl auch nicht, selbst wenn die Action dafür gut knallt.

    Für diesen Einsatz schließt sich die globale Agentinnen-Elite zusammen!

    Eine Festplatte mit einem Programm, das die globale Internetkommunikation lahmlegen kann, ist in die Hände von Söldnern geraten. Um eine weltweite Katastrophe zu verhindern, muss sich die CIA-Agentin Mason „Mace“ Brown (Jessica Chastain) mit Kolleginnen anderer Nationen zusammenschließen: Dazu gehören die Geheimagentinnen Marie (Diane Kruger) vom deutschen BND und Khadijah (Lupita Nyong'o) vom britischen MI6 sowie Graciela (Penélope Cruz) aus Kolumbien. Letztere ist eigentlich Psychologin und nur durch dumme Umstände zwischen die Fronten geraten. Und dann ist ihnen auch noch die mysteriöse Lin Mi Sheng (Fan Bingbing) dicht auf den Fersen…

    Wie man es im Spionage-Genre gewohnt ist, geht es auch in „The 355“ um nichts Geringeres als die Verhinderung eines Dritten Weltkriegs. Die Geheimwaffe der Wahl ist diesmal aber nicht nuklear, sondern ein ultimatives Hacker-Spielzeug. Die grundlegende Prämisse, dass der kleine Kasten per Knopfdruck das „gesamte Internet“ steuern könne, wirkt nicht nur albern, sondern arbeitet direkt gegen Chastains Aussage, der Film wäre weniger realitätsfern als vergleichbare Franchises.

    Knallig-chaotische Action

    So oder so, der Grundstein für knallige Actionsequenzen ist gelegt. Und in diesen tritt der angestrebte „Realismus“ schon etwas deutlicher zutage: Keine wilden Parcours von Hochhaus zu Hochhaus. Keine Faustkämpfe auf den Dächern rasender Fahrzeuge. Keine Bungee-Sprünge aus hunderten Metern Höhe. Primär wird geballert was das Zeug hält – mit einer inszenatorischen Wucht und Coolness ganz auf der Blockbuster-Höhe der Zeit. Und weil bei den Schießereien meistens drei oder mehr Parteien mit unterschiedlichen Motiven beteiligt sind, entsteht oft ein spaßig-intensives Chaos.

    Leider diktieren dabei allein die Bedürfnisse des Plots, ob die Agentinnen gerade im „John Wick“-Modus jeden Schuss perfekt zwischen die Augen versenken oder wie „Star Wars“-Sturmtruppler gar nichts hinbekommen, selbst wenn sie noch so nah dran sind und unzählige Male abdrücken. Konsistent ist das nicht. Etwas schwächer ausgefallen sind außerdem die Nahkämpfe: Die vielen Schnitte, exzessiven Nahaufnahmen und übertriebenen Wackelkamerabilder erinnern an die schwächeren Momente der „Bourne“-Filmreihe. Es wirkt halt wie so oft im Hollywoodkino so, als wolle man so mittelmäßige Kampfchoreografien kaschieren.

    Warum zur Hölle zerstört niemand die Festplatte?

    „The 355“ kommt nicht nur der „Bourne“-Tonalität vereinzelt sehr nah. Der Film ist ganz allgemein ein ziemliches Gemenge aus den gängigsten Agenten-Reihen von „James Bond“ bis „Mission: Impossible“. Unglücklicherweise sind es dabei aber vor allem die Genre-Klischees und unspektakulären Konventionen, die übernommen werden. Das heißt konkret: Verfolgungsjagden gibt es nur zu Fuß, die High-Tech-Gadgets sind langweilig und ausgelutschte Szenen wie die Infiltration einer Schickeria-Party häufen sich. Das Bemühen um eine konstante „Coolness“ führt zudem zu allerlei Wegwerf-Plattitüden: „Dass etwas von solcher Schönheit so zerstörerisch sein kann…“

    Am traurigsten ist aber, dass man die vielen Stars so verschleudert: Die faden Heldinnen haben kaum Persönlichkeit – von den schlicht und einfach geldgeilen Bösewichten ganz zu schweigen. Nun gut, James Bond zeichnet sich auch nicht gerade durch einen komplexen Charakter aus. Es geht schließlich um den Spaß, knallharten und gewieften Übermenschen bei ihrer Spionage-Arbeit zuzusehen. Das Problem ist nur: Dafür handelt die Crew wiederum viel zu fahrlässig und zu undurchdacht. Das wohl haarsträubendste Beispiel: Relativ schnell bekommen sie die zentrale Terrorwaffe in die Hände. Doch statt das Gerät zu zerstören, welches die Welt mit ein paar Klicks in völlige Anarchie stürzen könnte, lassen sie das Teil lieber schlecht bewacht zurück und gehen sorglos einen heben.

    Was führt die mysteriöse Lin Mi Sheng (Fan Bingbing) wirklich im Schilde?

    Weil die inhärente Substanzlosigkeit von Figuren und Plot mit Fortlaufen des Films immer offensichtlicher wird, dürften auch die dramatischen Szenen gegen Ende bei den meisten keinen emotionalen Effekt mehr haben. Im Gegenteil: Dieser eigentlich passable Action-Film wird immer langatmiger – und auch ein unnötiger, vorhersehbarer Epilog lässt einen schließlich ziemlich kalt zurück…

    Fazit: „Die Welt ändert sich“, heißt es am Ende von „The 355“. Frauen übernehmen jetzt das Geheimagent*innen-Ruder. Bloß ist dieses Ruder in den Händen des Klischee-Männerkinos schon lange vermodert. Daran ändert auch ein Geschlechterwechsel nur wenig. Bloß passable Action alleine reicht da eben nicht.

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