Überleben in einer wahrhaft kalten Welt -
Vorbemerkung: Fans von Filmen mit Happy End oder Dramaturgie nach klassischem Muster sollten lieber die Finger von "Ayka" lassen. Wer aber an Filmen interessiert ist, die nah bei den handelnden Personen bleiben, die durch bewegliche Kamera und Reduzierung äußerer Mittel unmittelbar in das Geschehen hineinziehen und zugleich dokumentarischen Charakter haben, der entdeckt in "Ayka" ein erschütterndes Meisterwerk.
Erzählt wird eine knappe Woche während eines eisigen Moskauer Winters. Die Kirgisin Ayka lebt mit anderen Migranten illegal in einem heruntergekommenen Mietshaus auf engstem Raum. Da ihre Arbeitserlaubnis abgelaufen ist und sie sich bei dubiosen Geldverleihern hoch verschuldet hat, muss sie jede Art von Arbeit annehmen und wird ein ums andere Mal ausgenutzt. Den Druck, den sie von ruppigen Arbeitgebern und der kirgisischen Mafia erfährt, gibt sie selbst an vermeintlich noch schwächere Arbeiterinnen weiter, die ihrerseits zu überleben versuchen.
Am Beginn und am Ende ihrer Geschichte steht aber das von Ayka zur Welt gebrachte Kind. Die ersten Filmbilder zeigen vier straff gewickelte Neugeborene, die in einer Moskauer Klinik zu ihren, in einem Gemeinschaftszimmer liegenden Müttern zum Stillen gefahren werden. Auch hier ist der Ton bereits rau und alles wirkt kalt. Ayka hat weder die Mittel noch die Zeit, ihr Kind zu versorgen. Nach ihrer Flucht aus der Klinik folgt ihr die Handkamera durch ein tief verschneites Moskau, in Hinterhöfe und dunkle Kellerräume mit katastrophalen Arbeitsbedingungen. Mag Aykas Neugeborenes auch erst ganz am Ende noch einmal eine Rolle spielen, so ist es physisch durch Unterleibsschmerzen und das aufreibende Abpumpen der Muttermilch ebenso präsent, wie metaphorisch durch Hundebabys in einer Tierklinik und den kranken Sohn einer Putzfrau. Jene Putzfrau ist die einzige Person in diesem Film, die Ayka Mitmenschlichkeit und Respekt entgegenbringt und für einige kurze Momente des Glücks in diesem düsteren und erdrückenden Porträt prekären Migrantendaseins sorgt.
Der Dokumentarfilmer Sergej Dwortsewoi hatte in seinem Spielfilmdebüt "Tulpan" Tradition und Moderne in der kasachischen Steppe im Rahmen einer Liebesgeschichte aufeinander treffen lassen. In "Ayka" schildert er schonungslos eine entfesselte Moderne. Die eisigen Wintertemperaturen spiegeln sich in einer verrohten Gesellschaft, in der nur die Ökonomie und der Erfolg zählen. Menschen sind Verfügungsmasse. Der Verzicht auf Musik (außer im Radio o.ä.) und die ganz nah an den Gesichtern verbleibende Handkamera verstärken den Eindruck, selbst in dieser Welt ganz unten gefangen zu sein. Nur das menschlich Mitfühlende auf Seiten der Betrachter macht diesen (körperlich) anstrengenden Film zu einem Erlebnis.
"Ayka" ist ein mit reduziertem Mitteln und in sehr begrenztem Rahmen (ca. eine Woche in Moskau) eindringlich inszeniertes Sozialdrama, welches schonungslos Ausbeutung, Hoffnungslosigkeit und die Auswüchse eines unsozialen Kapitalismus zeigt. Der bedrückende Film ist manches Mal schwer erträglich, wirkt auf diese Weise aber umso nachhaltiger.
Die Schauspielerin Samal Esljamowa, die in nahezu jeder Szene präsent ist, erhielt beim Filmfestival in Cannes den Preis für die beste Hauptdarstellerin. Sehenswert!