In seinem auf der Berlinale außer Konkurrenz im Wettbewerb uraufgeführten „Nanouk“ erzählt der bulgarische Regisseur Milko Lazarov eine kleinstmögliche (aber deshalb nicht weniger dramatische) Geschichte in den größtmöglichen Bildern. In der kargen Eiswüste Jakutiens, hoch oben im Nordosten des asiatischen Teils Russlands, lebt der Eisfischer Nanook (Mikhail Aprosimov) mit seiner Frau Sedna (Feodosia Ivanova) allein in einer Fellhütte, ihre erwachsenen Kinder sind längst weggezogen…
In traumhaften Tundrapanoramen wird der Alltag des Paares gezeigt, etwa wie Nanook mit dem Hundeschlitten hinausfährt und zunächst routiniert das Eis abklopft, um so eine passende Stelle zu finden, an der er anschließend mühevoll sein etwa ein Meter tiefes Fischerloch picken kann. Lazarov fasst diese Arbeitsschilderungen in imposante Einstellungen, in denen er geschickt die Sonne und den Schnee miteinander spielen lässt. Die eisige Bildgewalt erreicht ihren absoluten Höhepunkt, wenn sich das in die Jahre gekommene Paar mit aller Kraft in die Seile hängen muss, damit ein garstiger Schneesturm nicht einfach ihre ganze Hütte davonweht.
Zugleich etabliert Lazarov in diesen Szenen fast ohne Worte eine unheimliche Nähe zwischen seinen Protagonisten, wie sie wohl nur zwischen einem lange Zeit abgeschieden lebenden Paar herrschen kann. Ihre Körper berühren sich zwar im Bett schon deshalb nicht, weil sie auch nachts ihre dicken Felljacken anbehalten, aber wie Nanook und Sedna ihre Gesichter beim Schlafen ganz nah aneinanderlegen, ist trotzdem ein sehr berührendes Motiv.
Ursprünglich sollte der Film mal „Nanook“ heißen, wurde dann aber im Original in „Ága“ umbenannt – eine nicht nur nachvollziehbare, sondern unbedingt notwendige Entscheidung. Abgesehen davon, dass der Name Nanook Filmfreunde unverzüglich an Robert Flahertys Dokuklassiker „Nanuk, der Eskimo“ denken lässt, wäre „Nanook“ der passende Titel für einen Film gewesen, in dessen Zentrum tatsächlich diese ganz sachlichen Beschreibungen des harschen Alltags stehen. Aber Lazarovs Film ist nun mal in erster Linie ein Werk über das Abwesende, über das Unausgesprochene, über das, was die ständigen Omen wie die Raben am Himmel oder die toten Schneekaninchen in der Tundra ankündigen – und dafür ist der Name der im Streit gegangenen, inzwischen in einer entfernten Diamantenmine arbeitenden Tochter (Galina Tikhonova) des Protagonistenpaars genau der richtige Titel. (Inzwischen hat der deutsche Verleih den Film hierzulande in „Nanouk“ umbenannt - unserer Ansicht nach eine falsche Entscheidung.)
Trotz seiner insgesamt betont naturalistischen Inszenierung lässt Lazarov in seinen an den Ecken abgerundeten Einstellungen immer wieder durchscheinen, dass Jakutien eben nicht nur ein Land der Leere und der Weite ist, sondern auch ein Land der Omen. Wenn hier der Donner grollt, dann ist jedenfalls das Geisterhafte oder womöglich sogar das Göttliche in den Bildern nicht weit. Nanook ist ein begeisterter und begeisternder Geschichtenerzähler – sein manchmal auf dem Schneemobil Feuerholz bringender Sohn Chena (Sergey Egorov) hört auch jetzt noch gerne seine Rentier-Storys zum Einschlafen.
Aber über seine Tochter sprechen will und kann er trotzdem nicht, die Kälte lässt offenbar auch die Seele hart werden, oder liegt es womöglich an der klassischen Musik aus dem kleinen Taschenradio, von der auch Nanook sagt, dass sie von einem sehr, sehr traurigen Mann geschrieben worden sein muss. Es wird ihn viel kosten, bis er endlich den Antrieb findet, die notwendige Reise anzutreten – und auch bei dieser findet Lazarov erneut die ganz großen Bilder.
Nach einer an die Männer-Doku-Soap „Ice Road Truckers“ erinnernden LKW-Fahrt durch den ewigen Schnee zeigt uns Lazarov auch das gewaltige Loch der Diamantenmine, von dem man sich überhaupt nicht vorstellen kann, dass es menschengemacht ist, eher könnte man sich einen gigantischen Meteoriteneinschlag als Ursache vorstellen. Am Rand des Lochs haben sich die Arbeiter angesiedelt und es macht den Eindruck, als würden ihre Häuser kurz davorstehen, von dem gigantischen Krater ebenfalls verschlungen zu werden. Hier holt sich die Natur von der Zivilisation zumindest metaphorisch zurück, was die Zivilisation zuvor Nanook und Sedna genommen hat, deren traditionelle Lebensweise wohl mit ihrer Generation gemeinsam aussterben wird.
Da ertönt dann auch zum ersten Mal die traurig-schöne Klassikmusik, die auch aus einem großen Hollywood-Melodram der Goldenen Ära stammen könnte, nicht nur aus dem Radio, sondern auch als Score auf der Tonspur. Vielleicht heißt das, dass sich „Nanouk“ an dieser Stelle selbst aus der Realität verabschiedet und stattdessen in die Welt der Omen und Märchen flieht. Vielleicht heißt das aber auch nur, dass die vereisten Seelen schließlich doch noch zu tauen beginnen.
Fazit: Ein trotz intimer Geschichte bildgewaltiges Schneewüsten-Melodram mit ganz vielen fantastischen Bildern, von denen einem vor allem die atemberaubenden Aufnahmen eines Diamantenminenlochs wohl so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen werden.
Wir haben „Nanouk“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film außer Konkurrenz im Wettbewerb gezeigt wird.