Der 1. Fall für Sherlocks kleine Schwester
Von Julius VietzenNicht nur wir auf FILMSTARTS haben in letzter Zeit wiederholt über zu lange Netflix-Filme geklagt – sei es über die maßlose romantische Komödie „The Kissing Booth 2“, über den völlig aus dem Ruder gelaufenen Science-Fiction-Thriller „The Last Days Of American Crime“ oder die bis zum Anschlag vollgestopfte Buchverfilmung „The Devil All The Time“.
Auch „Enola Holmes“ ist nun spürbar zu lang geraten. Trotzdem liegt der Fall hier etwas anders als bei „The Kissing Booth 2“ & Co.: Die Verfilmung des ersten Bandes der gleichnamigen Buchreihe von Nancy Springer wurde ursprünglich von Warner Bros. und Legendary produziert – und zwar fürs Kino. An Netflix fielen die Rechte erst, als der Film schon – zumindest weitestgehend – fertig war.
Nun können wir nicht sagen, ob man den Film für einen Kinostart eventuell noch ein wenig gestaucht hätte – aber genau das wäre die richtige Entscheidung gewesen: Denn während sich „Enola Holmes“ in der ersten Hälfte als charmantes, humorvolles Detektivin-Abenteuer mit einer wundervoll-energiegeladenen Hauptdarstellerin entpuppt, verlieren sich Regisseur Harry Bradbeer („Fleabag“) und Drehbuchautor Jack Thorne („Wunder“) in der zweiten Hälfte zunehmend in unnötigen Plot-Schlenkern und tonalen Schwankungen.
Enola Holmes inmitten ihrer berühmten Brüder.
Enola Holmes (Millie Bobby Brown) ist zwar im Schatten ihrer älteren Brüder Sherlock (viel weniger knorrig als in den Büchern: Henry Cavill) und Mycroft (Sam Claflin) aufgewachsen – wurde von ihrer liebevoll-fürsorgenden Mutter Eudoria (Helena Bonham Carter) aber trotzdem gut darauf vorbereitet, sich als junge Frau im viktorianischen England durchzuschlagen. Doch dann verschwindet Eudoria am Morgen von Enolas 16. Geburtstag (scheinbar) spurlos. Also müssen wohl oder übel ihre schwerbeschäftigten Brüder einspringen...
Der traditionell denkende Mycroft will seine unkonventionell erzogene jüngere Schwester am liebsten in ein Mädchen-Internat stecken, doch das lässt sich Enola nicht gefallen. Sie entdeckt, dass ihre Mutter ihr einen Haufen Geld hinterlassen hat, und nimmt als Junge verkleidet Reißaus, um auf eigene Faust nach Eudoria zu suchen. Im Zug nach London trifft sie auf einen anderen Ausreißer, der ihre Pläne gehörig durcheinander würfelt: Der junge Lord Viscount Tewksbury (Louis Partridge), der in der Hauptstadt seinen Platz im House of Lords einnehmen will, wird von einem fremden Angreifer beinahe aus dem fahrenden Zug geschmissen...
Millie Bobby Brown, deren Mitwirken im Netflix-Superhit „Stranger Things“ sicherlich maßgeblich dazu beigetragen hat, dass der Streaming-Service überhaupt ein Interesse an „Enola Holmes“ entwickelt hat, begeistert mit einer mühelos-charmanten Performance, bei der sie zudem ihr ganzes komödiantisches Talent in die Waagschale werfen darf. In dieser Hinsicht besonders gelungen sind all jene Momente, in denen sich Brown – die vierte Wand durchbrechend – direkt an die Zuschauer wendet: Mal rollt sie genervt mit den Augen, mal erläutert sie ihre Pläne – und in einer Szene bittet sie das Publikum gar persönlich um Hilfe.
Harry Bradbeer hat als Regisseur der Sitcom-Sensation „Fleabag“, in der Phoebe Waller-Bridge immer wieder auf ganz ähnliche Stilmittel zurückgreift, bereits eine Menge Erfahrung mit solchen direkten Publikumsansprachen gesammelt – und so entpuppen sie sich auch in „Enola Holmes“ keinesfalls als bloßes Gimmick oder gar erzählerischer Notnagel. Stattdessen setzen Enolas Reden immer wieder gekonnt einen ironischen Kontrapunkt zur „ernsthaften“ Handlung. Enola zählt etwa zu Beginn die ewig lange Liste der Fähigkeiten und Heldentaten ihres berühmten Bruders Sherlock auf, woraufhin der „brillante Schlussfolgerer“ am Bahnhof erst einmal schnurstracks an ihr vorbeiläuft, ohne sie zu erkennen.
Millie Bobby Brown wendet sich als Enola Holmes immer wieder auch direkt ans Publikum...
Auch bei der filmischen Darstellung der Detektivarbeit beweist Bradbeer ein gutes Händchen. In der Vorlage mit dem Untertitel „Der Fall des verschwundenen Lords“ spielen etwa Buchstabenrätsel, die Enolas Mutter ihrer Tochter hinterlassen hat, eine zentrale Rolle (weshalb Netflix das Startdatum von „Enola Holmes“ passenderweise ebenfalls als Buchstabensalat angekündigt hat).
Bradbeer zeigt Enola und ihre Mutter deshalb schon früh bei einem Scrabble-Duell und hat so später das ideale Werkzeug in der Hand, um Enolas Versuche, die Geheimcodes ihrer Mutter zu entschlüsseln, auch visuell darstellen zu können. Enolas Intelligenz und ihr fotografisches Gedächtnis bleiben in dieser wie in späteren Szenen keine pure Behauptung, sondern werden auch auf der Leinwand (bzw. ja nun leider nur dem Fernseher) gezeigt.
Bradbeer und Drehbuchautor Thorne finden also immer wieder Wege, um die Elemente der Buchvorlage auf eine auch filmisch spannende Weise zu präsentieren. Nur verlieren sie inmitten der ansprechenden Stilmittel in der zweiten Hälfte zunehmend den roten Faden – und damit auch den Schwung ihrer Erzählung: Dass Enola bei der Suche nach ihrer Mutter zusätzlich auch noch in den Fall des verschwundenen Lord Tewksbury verwickelt wird, ist dabei gar nicht mal das Problem.
Aber während Enola diesen eigentlich ganz simplen Fall in der Vorlage quasi nebenher löst, wird dieser Aspekt der Handlung in der Verfilmung zu einem regelrechten Polit-Krimi aufgeblasen, bei dem die Filmemacher zu viel Zeit mit den Hintergründen und Motiven der beteiligten Figuren verbringen. Hinzu kommen ein Abstecher ins Mädchen-Internat sowie am Schluss sogar noch ein unnötig hinzugedichteter Action-Showdown, der nicht nur die Auflösung unnötig in die Länge zieht und nicht zum restlichen Film passt, sondern auch dafür sorgt, dass die eigentlichen Stärken von „Enola Holmes“ immer mehr in den Hintergrund rücken.
Fazit: In der ersten Hälfte begeistert „Enola Holmes“ mit einer großartigen Hauptdarstellerin und einer raffiniert inszenierten Detektivgeschichte. In der zweiten Hälfte geht der anfängliche Schwung allerdings nach und nach verloren.