Julia Roberts ist oscarwürdig
Von Christoph PetersenFilme über die fatalen Folgen der Sucht gibt es wie Sand am Meer. Aber viele davon kopieren sich längst nur noch gegenseitig. Es kursiert eine ganze Reihe von oft erprobten Szenen, die zeigen, dass ein Protagonist ganz am Boden angekommen ist, etwa das Einschlafen im eigenen Erbrochenen. Und weil wir alle diese Szenen schon so oft gesehen haben, kann es leicht passieren, dass wir einen Film schon deshalb für authentisch halten, weil ein Regisseur oder Drehbuchautor ein paar davon in leicht variierter Form in seinem Plot unterbringt. Aber das ist nicht authentisch, das ist mechanisch. Zuletzt hat das etwa Bradley Cooper in „A Star Is Born“ so gemacht. Ein insgesamt überzeugendes Regiedebüt, keine Frage, aber zur Schilderung der Alkoholsucht seiner Hauptfigur hat der „Hangover“-Star dann doch wieder auf genau solche Klischeemomente zurückgegriffen, die man in ganz ähnlicher Form schon hundert Mal gesehen hat.
Bei „Ben Is Back“ ist das anders. In dem Drogen-Drama sind viele der Suchtszenen derart spezifisch, dass hier jemand entweder sehr genau recherchiert hat oder er von persönlichen Erfahrungen zehrt (und sich nicht einfach nur andere Hollywood-Filme angesehen hat). Und wahrscheinlich ist bei Regisseur und Drehbuchautor Peter Hedges (oscarnominiert für das Skript zu „About A Boy“) sogar beides der Fall. Zumindest hat er „Ben Is Back“ zu einem Zeitpunkt in Angriff genommen, als gerade sein Lieblingsschauspieler, ein guter Freund und fast auch noch ein Familienmitglied kurz nacheinander an ihrer Sucht zugrunde gegangen waren. Das klingt erst mal bleischwer. Aber auch das ist „Ben Is Back“ nicht. Zwar ließe sich das Drama durchaus als tragisch, berührend und schmerzhaft beschreiben. Aber am Ende steht für uns ein ganz anderes Adjektiv an erster Stelle, mit dem wir vorab nicht gerechnet hätten: spannend!
Am Tag vor Weihnachten steht der Teenager Ben Burns (Lucas Hedges) plötzlich unangekündigt vor der Tür. Während seine Mutter Holly (Julia Roberts) außer sich ist vor Freude, reagiert seine jüngere Schwester Ivy (Kathryn Newton) mehr als skeptisch. Und auch sein Stiefvater Neal (Courtney B. Vance) ist von dem überraschenden Festtagsbesuch alles andere als begeistert. Ben lebt eigentlich in einer unterstützten Wohngruppe für Suchtkranke – und niemand hat gewusst, dass sein Betreuter ihm erlaubt hat, die Feiertage mit seiner Familie zu verbringen. Freude und Panik liegen da eng beieinander. So räumt Holly erst einmal alle Tabletten aus dem Badezimmerschrank und verkündet ihrem Sohn, dass sie ihn in den nächsten 24 Stunden keine Sekunde aus den Augen lassen wird – und das heißt unter anderem auch, dass sie nachts vor seinem Bett auf dem Fußboden schläft...
Ben ist ein guter Junge – empathisch, liebevoll und er hat einen entwaffnenden trockenen Humor. Und ja, er ist eine tickende Zeitbombe. Wobei wir als Zuschauer lange Zeit gar nicht wissen, was genau damals vor Bens Einweisung eigentlich passiert ist – und damit auch nicht, was jetzt passieren könnte, wenn er doch wieder rückfällig wird. Man spürt nur, wie plötzlich eine immer stärker werdende Nervosität um sich greift, wie sich der typische Weihnachtsstress zunehmend mit Schüben blanker Panik mischt. Wie Liebe und Angst in den Figuren widerstreiten, sich die Nadel auf dem Barometer zwischen Freude und Furcht bei allen Familienmitgliedern konstant immer wieder verschiebt – das ist hier schlichtweg grandios präzise beobachtet. Diese Ambivalenz ist der Motor der vermeintlich ereignisarmen, aber nichtsdestotrotz sehr intensiven ersten Hälfte von „Ben Is Back“.
In der zweiten Hälfte des Plots, der sich komplett innerhalb von nur einem einzelnen Tag abspielt, gewinnt das Ganze durch eine Hundeentführung an Zug – Mutter und Sohn machen sich gemeinsam auf die Suche, die sie auch an die dunkelsten Orte der vermeintlich beschaulichen Nachbarschaft führt. Die Drogen-Drama-Antwort auf „John Wick“. Das ist dann nicht mehr ganz so subtil und präzise wie in der ersten Hälfte, es schleichen sich ganz selten sogar Klischees ein (der Obdachlosen-Drogentreff am Fluss mit seinen Feuertonnen wirkt wie in einem 80er-Jahre-New-York-Film). Und die allerletzte Szene ist auch zu sehr Hollywood. Zugleich ist es aber saumäßig spannend, wenn Ben das abgelegene Haus eines alten Dealer-Kumpels betritt und Holly minutenlang draußen im Auto sitzt und sich nicht entscheiden kann, ob sie nun hinterhergehen oder die Türen verriegeln soll.
Wie kleine Puzzlestücke setzt sich im Laufe der Nacht langsam zusammen, was Ben damals alles gemacht und durchgemacht hat. Und dabei hält sich Regisseur Peter Hedges kein bisschen zurück, vor allem die Episode mit dem Geographielehrer ist ein brutaler Schlag in die Magengrube (für den Zuschauer und noch mehr für Holly). Da ist es alles andere als selbstverständlich, seinen eigenen Sohn als Hauptdarsteller zu besetzen. Aber der für „Manchester By The Sea“ als Bester Nebendarsteller für einen Oscar nominierte Lucas Hedges verkörpert die Titelfigur mit dem notwendigen Mut zur Widersprüchlichkeit: Ben weiß selbst am allerbesten, was für eine abgründige Gefahr dort in ihm lauert.
Trotz der rundherum starken Schauspielleistungen ragt Julia Roberts („Homecoming“) noch einmal heraus. Eine solch mitreißende Löwenmutter-Performance haben wir seit Sandra Bullock in „The Blind Side“ nicht mehr gesehen – nur dass Holly eben nicht einfach nur liebevoll-resolut, sondern zugleich auch eine tief zerrissene Figur ist: Als sie im Kaufhaus den ehemaligen Arzt ihres Sohnes trifft, der ihm damals nach einem Skateboard-Unfall leichtfertig Schmerztabletten verschrieben hat, sagt sie ihm auf den Kopf zu, dass sie ihm einen grausamen Tod wünscht – und das, obwohl der Mann inzwischen Alzheimer hat und nicht einmal mehr weiß, wo er sich gerade befindet. Wenn es damals für Sandra Bullock in einer absolut charmant-entschlossenen, aber am Ende auch etwas eindimensionalen Rolle für einen Hauptdarstellerinnen-Oscar gereicht hat, müsste Julia Roberts für den Preis jetzt eigentlich sicher als Siegerin gesetzt sein. Daraus wird zwar nichts, weil Olivia Colman („The Favourite“) und Lady Gaga („A Star Is Born“) das Rennen wohl unter sich ausmachen werden – aber verdient hätte Roberts es dennoch allemal.
Fazit: Erstaunlich spannendes, aber deshalb nicht weniger differenziertes Drogen-Drama mit einer unbedingt oscarwürdigen Julia Roberts.