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    Ex Libris: Die Public Library von New York
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Ex Libris: Die Public Library von New York
    Von Christoph Petersen

    Der 1930 geborene und 2017 mit einem Ehrenoscar für sein Lebenswerk ausgezeichnete Frederick Wiseman zählt auch weit jenseits der 80 noch immer zu den bedeutendsten Dokumentarfilmern der Welt. Das liegt vor allem an seiner offenbar schlicht nicht zu stillenden Neugier, mit der er in seinen (oft sehr langen) Werken vornehmlich Institutionen und ihre Strukturen erforscht. Egal ob eine Irrenanstalt („Titicut Follies“), ein Museum („National Gallery“), eine Universität („At Berkeley“) oder eine öffentliche Grünanlage („Central Park“) – immer lässt sich Wiseman vorab einen umfänglichen Zugang und absolute kreative Freiheit gewähren, um dann alles zu filmen, was ihn gerade besonders anspricht. Das ist auch in seinem neuen Film „Ex Libris: Die Public Library von New York“ über das System der öffentlichen Büchereien in New York nicht anders – ganz selbstverständlich stellt er mehrminütige Ausschnitte von Vorstandssitzungen neben Bürgergespräche, Streichkonzerte neben Vorschulunterricht, Berufsinformationsveranstaltungen neben Budgetverhandlungen. Das Ergebnis ist eine typische und typisch-meisterhafte Wiseman-Doku – und zugleich eine unglaublich inspirierende, niemals predigende Ode an die universelle Kraft des Wissens und der Bildung.

    Die Filme von Wiseman kommen allesamt ohne gesprochenen oder eingeblendeten Kommentar aus, stattdessen übernimmt das Publikum die Rolle eines mündigen Beobachters – mal gibt es nur kurze Einblicke in einen Prozess wie die inzwischen hochtechnisierte Buchrückgabe, dann bleibt der Regisseur auch mal viele Minuten lang bei einer einzelnen Sitzung, einem Vortrag, einem Konzert oder einer Diskussion hängen (und zwar oft ohne Zeitsprünge, praktisch so, als würde sich der Zuschauer einfach eine Zeitlang still dazusetzen). Auswahl und Anordnung des Gezeigten wirken dabei nur im ersten Moment zufällig, denn Wiseman versteht wie kaum ein anderer, wie sich die verschiedenen Ausschnitte gegenseitig kommentieren – so lässt er auf eine hochakademische Vorlesung zur Sklaverei eine Bürgerdiskussion in einer Bibliothek in einem ärmeren, vornehmlich afroamerikanischen Stadtteil folgen, in der die gerade noch auf einer intellektuellen Ebene verhandelten Probleme plötzlich im Alltag der Menschen unmittelbar greifbar werden. Zudem endet der Film wohl kaum zufällig mit dem Vortrag eines Musikers, der in einer Art und Weise über die Komposition seiner Stücke aus einzelnen Elementen spricht, die auch dem dokumentarischen Prozess von Wiseman ziemlich nahekommt.

    Wiseman kann sich aber nicht nur für so ziemlich alles ernsthaft interessieren (und seine Faszination auf den Zuschauer übertragen), er hat auch einen sicheren Blick für die kleinen amüsanten Absonderlichkeiten, etwa wenn die Callcenter-Mitarbeiter immer mal wieder mit „merkwürdigen“ Anfragen konfrontiert werden und dann ohne jeden Zynismus und hilfsbereit antworten, dass Einhörner aber gar keine real existierenden Tiere seien. Und manchmal ist der Filmemacher einfach nur genauso neugierig wie wir alle: Wer hat beim Betreten eines großen Raumes voller besetzter Computer nicht schon mal gerne wissen wollen, was all die verschiedenen Menschen da eigentlich jetzt gerade online treiben? Wiseman schaut ihnen an einer Stelle nacheinander über die Schulter – einer surft auf Wikipedia, ein anderer zockt ein Browserspiel und wieder ein anderer informiert sich über Darmkrebsuntersuchungen. Etwas Voyeuristisches hat das trotzdem nie, vielmehr zeigt Wiseman in der kurzen Sequenz auf, wie sich dank der Digitalisierung die ganze Welt mit ihren unendlich vielen Spielweisen auf einen einzigen Raum verdichten lässt.

    Wiseman ist erwiesenermaßen alles andere als ein Schönwetterdokumentarist (weshalb es durchaus auch schon wie bei „The Garden“ über den Madison Square Garden juristische Klagen der Beteiligten gab). Gleich sein Debüt „Titicut Follies“ von 1967 darf sogar als offene Anklage gegen den Umgang des Staates mit straffällig gewordenen geistig Behinderten verstanden werden – und wenn man in „At Berkeley“ einer Sitzung der Zulassungskommission beiwohnt, fragt man sich auch, ob das wohl so alles seine Richtigkeit hat. In „Ex Libris“ gibt es hingegen nur einen „negativen“ Moment, nämlich wenn ein Grenzschützer beim Berufsinformationstag platt-patriotische Phrasen von einem Zettel abliest (nachdem zuvor ein Feuerwehrmann und eine Förderin von Frauen in Bauberufen tatsächlich inspirierende Vorträge gehalten haben). Aber das selbst die grundsätzlicheren Diskussionen (etwa gedruckte Bücher vs. digitale Ausgaben oder der Umgang mit Obdachlosen, die in der Bücherei schlafen) alle gesittet ablaufen und die Bibliothek für Wiseman offensichtlich ein rundherum inspirierender Ort ist, geht keinesfalls auf Kosten der Dramaturgie, ganz im Gegenteil:

    Die Wirkung guter Filme reicht oft auch über den Abspann hinaus. Vielleicht möchte man sich anschließend weitere Werke des Regisseurs oder eines Schauspielers ansehen, sich mit einem speziellen Thema des Films eingehender beschäftigen, sich für eine bestimmte Sache engagieren. Aber „Ex Libris: Die Public Library von New York“ erreicht in dieser Hinsicht noch einmal einen ganz anderen Level: Nach dem Kinobesuch will man Bibliothekar, Feuerwehrmann und Gebärdendolmetscher werden, man will sich tiefergehend mit der Verteilung jüdischer Delikatessengeschäfte in den 1930ern und der Herkunft von Einhörnern beschäftigen, man will sich für den digitalen Zugang und die digitale Kompetenz auch der Ärmeren und Älteren einsetzen – und vor allem will man wieder an die gelebte Demokratie glauben, die vor allem dann in all ihrer Pracht aufzublühen scheint, wenn wie in den Bibliotheken New Yorks Menschen aller Rassen, Bildungsschichten und Vermögensverhältnisse auf der Suche nach Wissen und Fortschritt zusammenkommen. Ein zutiefst faszinierendes und vor allem ein zutiefst menschliches Meisterwerk.

    Fazit: Inspirierender können drei Stunden und sieben Minuten Kino nicht sein.

    Wir haben „Ex Libris: The New York Public Library“ auf dem Filmfest Hamburg gesehen, wo er in der Sektion „Transatlantik“ gezeigt wurde.

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