„Nur das Fragment vermittelt Authentizität“, zitiert Jean-Luc Godard am Ende von „The Image Book“ den deutschen Dramatiker Bertolt Brecht. Wenn diese Aussage stimmt, dann wäre das im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes uraufgeführte Kino-Essay des inzwischen 87-jährigen Meisterregisseurs wohl einer der authentischsten Filme, die je das Licht der Leinwand erblickt haben. Denn wie er es in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend immer mehr getan hat, schafft Godard auch in „The Image Book“ einen beim ersten (und wohl auch beim zweiten und dritten) Sehen kaum zu fassenden Fluss von (oft bewusst zerstörten) Filmschnipseln und (oft absichtlich nicht synchronen) Tonfragmenten, während er aus dem Off sprechend über Themen reflektiert, die ihn schon seit langer Zeit umtreiben: die Wahrheit von Bildern, Worten, die Moral des Krieges, Humanismus, Verbrecher und natürlich das Kino.
Zu Beginn seiner Karriere revolutionierte Godard zusammen mit den anderen Regisseuren der Nouvelle Vague gleich mal das Kino, drehte dabei Klassiker wie „Außer Atem“ oder „Die Verachtung“. Aber im Gegensatz zu den meisten seiner Mitstreiter, die dem narrativen Kino die Treue gehalten haben, entwickelte sich Godard schon bald in eine ganz andere und vor allem ganz eigene Richtung weiter. Spätestens 1968 war sein politisches Bewusstsein voll erwacht; mit dem Scheitern der Mai-Revolution sowie den politischen, sozialen und vor allem moralischen Katastrophen der 1970er Jahre begann Godard irgendwann mehr vom Kino zu erwarten als eine Frau und eine Pistole.
Also begann er, die Mittel des Kinos und mit dem Aufkommen der Videotechnik auch diese für extrem persönliche, subjektive Essayfilme zu verwenden, die er aus einem ständig wachsenden Archiv von Bildern zusammenfügte. Dabei ging es zwar stets um das Kino, noch mehr allerdings um das Versagen des Kinos, ein Aspekt, der auch im Titel von „2 x 50 ans de cinéma français“ angedeutet ist. 100 Jahre Filmgeschichte teilte Godard in eine erste Phase von 1895 bis1945 und die Zeit danach. Wie auch in seinem späteren Opus Magnum „Histoire(s) du cinéma“ ging es um die Möglichkeiten des Kinos, um die Hoffnung, durch Bilder zur Aufklärung der Menschen beizutragen.
Dass selbst all die schrecklichen Bilder vom Holocaust und von den sonstigen grausamen Exzessen des Zweiten Weltkriegs die Nationen der Welt nicht dazu bringen konnten, Gewalt und Vernichtung ein für alle Mal zu stoppen, hat in Godard eine Skepsis gegenüber der Macht der Bilder provoziert, die er nun in „The Image Book“ explizit auch auf Wort und Schrift erweitert. In fünf Kapiteln entfaltet sich hier sein Gedankenstrom, der mit Bildern des Krieges beginnt. Reale und fiktive Bilder von Atomexplosionen und Schlachten, von Erschießungen und Folter, von Mord und Totschlag reiht Godard aneinander, Bilder, die sich womöglich sogar zum Teil gegenseitig bedingt oder inspiriert haben – ein schrecklicher Gedanke, der einem aber unweigerlich kommt, wenn hier etwa Szenen aus Pier Paolo Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ und Bilder aus Abu Ghuraib gegenübergestellt werden.
Missbraucht das Kino in solchen Momenten seine Möglichkeiten? Wird bereits durch die gesamte Filmgeschichte zu fahrlässig mit Bildern von Mord, Vergewaltigung und Folter umgegangen? Welche Gefahr in Bildern ruht, wird gerade heute, im Zeitalter der Fake News, immer deutlicher; eine Gefahr, die natürlich auch das Wort, die Schrift, das Buch mit umfasst. Immer wieder deutet Godard zwar das aufklärerische Versprechen des Buches an, die Möglichkeit, sich zu bilden, seinen Horizont zu erweitern, durchkreuzt diese Hoffnung aber sofort durch den Verweis auf die Buchreligionen Christentum, Judaismus und Islam, deren religionsstiftende Texte schließlich auch immer wieder missbraucht wurden und werden.
Im Orient endet schließlich Godards assoziativer Gedankenfluss, in einer Region, die vom Westen immer wieder zum Spielfeld seiner Interessen degradiert wurde; und zugleich einer Region, die noch immer viel zu oft mit einem von Klischees und Stereotypen geprägtem Blick gesehen wird, der eine wahrhaftige Auseinandersetzung verhindert. Hoffnung auf Besserung scheint es für Godard nicht zu geben, immer brüchiger wird am Ende seine unverwechselbare, von Jahrzehnten des Dauerqualmens geprägte Stimme, die voller Wut den Verlust an Moral beklagt, der das westliche Handeln prägt. Erst ganz am Ende, schon nach dem Abspann, folgt doch noch ein poetisches Bild: Tanzende in einem Pariser Salon, schwarz-weiße Bilder voller Lebensfreude und Energie, doch auch hier stürzt schließlich ein Tänzer zu Boden. Das letzte Bild von „The Image Book“ und vielleicht auch das letzte Bild in Godards langer Karriere, die das Kino prägte wie kaum eine andere. Es wäre ein passendes.
Fazit: In „The Image Book“ lässt Jean-Luc Godard den Zuschauer in einem assoziativen Fluss aus Bildern und Worten an seinen Gedanken teilhaben, an Reflektionen über den Zustand der Welt und den Verlust an Moral, an dem die Gegenwart krankt.
Wir haben „The Image Book“ bei den Filmfestspielen in Cannes 2018 gesehen, wo er im Wettbewerb um die Goldene Palme gezeigt wurde.