Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf: Thomas Hobbes, der englische Philosoph des 17. Jahrhunderts, meinte damit, dass der Mensch kein soziales Wesen, sondern ein bösartiger Egoist sei, dem der Krieg gegen alle anderen im Blut liege. Ob der Schriftsteller William Giraldi dieses Zitat im Kopf hatte, als er seinen Roman verfasste, der die Vorlage zu „Wolfsnächte“ bildet, ist nicht bekannt. Doch verwundern würde es nicht. Auch Jeremy Saulnier („Blue Ruin“) stellt in seiner Adaption nun die Frage nach der Natur des Menschen und nach dem Menschen in der Natur. Vor der Kulisse des rauen Nordalaskas erzählt er eine Geschichte über Wölfe mit Pelz – und Wölfe mit Haut. Und trifft dabei mit harten Bildern und leisen Tönen voll ins Schwarze.
Der Buchautor und Wolfsexperte Core (Jeffrey Wright) wird von der jungen Medora (Riley Keough, „Logan Lucky“) um Hilfe gebeten. Ein Rudel Wölfe hat ihren Sohn getötet. Es ist bereits das dritte Kind in diesem Winter, das die Tiere geholt haben. Medora will die sterblichen Überreste des Jungen bergen. Doch als Core die Spur des Rudels findet, entdeckt er Anzeichen dafür, dass die Raubtiere möglicherweise gar nicht die Schuldigen sind. Bevor er jemandem davon berichten kann, überschlagen sich die Ereignisse. Denn Medoras Mann Vernon (Alexander Skarsgaard) ist aus dem Krieg heimgekehrt und begibt sich auf einen Rachefeldzug, der den Schnee Alaskas blutig rot färbt. Und auch von Core will er sich nicht aufhalten lassen…
„Das ist nicht Alaska“, sagt Medora knapp, als Core ihr von seiner Tochter erzählt, die in Anchorage wohnt. Er meint damit, dass das wahre Alaska dort ist, wo sie lebt, im hohen Norden des Landes, das nur spärlich besiedelt und wo es nur wenige Stunden am Tag hell ist. Wo man Angst haben muss vor der Dunkelheit. Sowohl vor der draußen vor dem Fenster als auch der in einem selbst. Jeremy Saulnier, der bereits in seinem Neonazi-Schocker „Green Room“ seinen Hang zur Kompromisslosigkeit bewies, bleibt dieser Linie nun auch in „Wolfsnächte“ konsequent treu und erzählt seine düstere Story in ebenso blutigen wie kalten Bildern. Denn die Menschen, die hier am Rande der Zivilisation leben, treffen ihre Entscheidungen nicht nach den Gesetzen der Justiz, sondern nach denen der Natur, die sie umgibt. Das erinnert immer wieder an den starken Schnee-Thriller „Wind River“ von Taylor Sheridan. Doch wo Sheridans Film eher dokumentarisch bleibt, setzt Saulnier auf eine fast schon mythische Überhöhung der Natur als eigene Kraft. So fügt er der eigentlich bodenständigen Thriller-Handlung eine unübersehbare Meta-Ebene hinzu.
So braucht Saulnier beispielsweise keinen Dialog, um seinen Antagonisten Vernon einzuführen: Der hört auf seinem Militärstützpunkt im Irak aus einem Gebäude verdächtige Geräusche. Er entdeckt einen Kameraden, der gerade eine Frau vergewaltigt. Und er rammt dem Kerl wortlos mehrfach das Messer in die Seite, bevor er die blutige Klinge dem Opfer anbietet, damit auch dieses persönlich Rache nehmen kann. Alexander Skarsgaard („Legend Of Tarzan“) spielt seine Rolle derart aggressiv und eiskalt zugleich, dass der Zuschauer diesem Charakter alles zutraut. Ein starker Kontrast zu Jeffrey Wrights („Westworld“) Figur Core, der mit Vernon vieles gemeinsam hat – und doch ganz anders ist. Während Soldat Vernon längst seinen animalischen Teil akzeptiert hat und tötet, wenn es ihm angemessen erscheint, ist Schriftsteller Core ein einsamer Wolf wider Willen, der eigentlich zu einem Rudel gehören möchte. Und der deshalb bereit ist, die Spielregeln der Gesellschaft einzuhalten, obwohl auch er die Verbundenheit zu dieser anderen, animalischen Welt spürt.
Saulnier schafft mit diesen Figuren extrem starke Momente. Wenn sich die beiden Männer etwa bei der ersten Begegnung gegenseitig als das erkennen, was sie sind, fällt kaum ein Wort. Blicke und Gesten reichen Saulnier, um großes Kino zu schaffen, das nun direkt auf der Streaming-Plattform Netflix ausgespielt wird. Mit einem der wohl derbsten Shoot-Outs der jüngeren Filmgeschichte beweist Saulnier nur Minuten später, dass er neben den leisen auch die dynamischen Töne beherrscht. Deshalb ist es schade, dass ihn gegen Ende von „Wolfsnächte“ ein wenig der Mut verlässt. Wenn er Vernon plötzlich eine Wolfsmaske tragen lässt, als der seine Morde begeht, oder im großen Showdown immer wieder das Wolfsrudel zu sehen ist, wird der Film plakativer und flacher, als es nötig gewesen wäre, um die Botschaft zu transportieren. Den faszinierenden Gesamteindruck stört das jedoch nur wenig.
Fazit: Mit knappen Dialogen und enormer Bildgewalt beantwortet Jeremy Saulnier die Frage nach der Natur des Menschen in seinem kompromisslosen „Wolfsnächte“ sehr eindeutig. Und schafft dabei mit starken Darstellern und kompromissloser Wucht einen wirklich sehenswerten Film.