Ich musste den Film zweimal schauen, um ihn immer noch nicht richtig zu verstehen. Oder besser gesagt, hatte ich beim zweiten Mal den Eindruck, einen ganz anderen Film zu schauen. Muss an mir und meiner Begriffsstutzigkeit liegen. Oder war das die Intention des Regisseurs. Ein Film, Zig verschiedene Aspekte, die den Film immer wieder neu erscheinen lassen. Wenn selbst proffessionelle Filmkritiker Kritiken schreiben, die so klug wirken wollen, dass ich das geschriebene Wort schon gar nicht verstehe, weiß ich schon, was in der Regel auf mich zukommt. Nicht nur Kino, sondern noch mehr Kopfkino. Was um Himmels Willen wollte der Regisseur uns mit seiner Inszenierung sagen? Da es viele Möglichkeiten gibt, das Geschehen zu deuten, habe ich mich mal für die ganz simple Veriante entschieden.
Thelma ist übersinnlich begabt. Wenn sie ihre Gefühlswelt in Aufregung versetzt, und sie sich etwas intensiv wünscht, werden Dinge auch wahr. Das kann mitunter lebensgefährlich für ihre Umwelt werden. Zum Beispiel kann sie als kleines Mädchen ihren kleinen Bruder, einen hilflosen Säugling, einfach teleportieren. Da sich ihre Eltern mehr um den kleinen Jungen als um sie kümmern, entwickelt sie Eifersucht, mit der sie als sechsjähriges Mädchen nicht klarkommt. An sich nichts Ungewöhnliches. Da Thelma sich aber ihrer Kräfte nicht bewußt ist, verschwindet der arme kleine Tropf irgendwann plötzlich unter einer dicken Eisschicht im zugefrorenen See vor dem Haus ihrer Eltern. Sie hat es sich gewünscht, also passiert es. Und schon ist der kleine Säugling tot.
Der Vater will Thelma erschießen, weil er weiß, welch unkontrollierbaren Kräfte in seiner Tochter wohnen. Familienerbe. Schon seine Mutter, die er in einem Hospital mit ultraharten Medikamenten seit Jahren ruhigstellen lässt, hatte diese unheimlichen Fähigkeiten. Aber er bringt es nicht über das Herz abzudrücken und versucht seine Tochter durch überaus strenge religiöse Erziehung und Unterdrückung ihrer Gefühle inklusive der unheimlichen für ihren Bruder tödlichen Ereignisse, auf den rechten Pfad zu bringen, sozusagen Sedierung durch streng religiöse Ausrichtung und Verdrängung der Realität.
Als junge Frau geht Thelma nach Oslo um zu studieren. Ihre Eltern wissen, dass sie ein wandelndes Pulverfass ist, gehen aber das Risiko ein, sie aus ihrer strengen Obhut zu entlassen, da seit dem Tod des kleinen Jungen vor etlichen Jahren nichts mehr passoert ist. Ein teurer Trugschluss für den Thelmas Vater am Ende bitter bezahlt.
Thelma verliebt sich an der Uni in eine junge Studentin. Sie gerät durch diese von ihr als falsch und unmoralisch empfundene Liebe in ein seelisches Dilemma und schon brechen ihre Kräfte wieder hervor. Das Unheil nimmt seinen Lauf.
Thelma ist ein mit subtilen Horror und Psycho Elementen angereichertes Coming of Age Drama. Die junge Frau, die über unheimliche Kräfte verfügt, ohne diese kontrollieren zu können, weil ihre Eltern es ihr nie beigebracht haben, stattdessen auf Verdrängung und religiöse Züchtigung des Geistes gesetzt haben, richet unbewusst viel Unheil an.
Die Verdrängung ihres übermächtigen Geistes in Verbindung mit der krankhaft religiösen Ausrichtung ihrer Erziehung führt zu psychogenen nicht epileptischen Anfällen und schließlich zu unkontrollierten Ausbrüchen ihrer Kräfte. Menschen verschwinden, Menschen sterben, bevor Thelma sich am Ende ihrer Kräfte bewußt wird und die Kontrolle darüber hat. Was sie sich wünscht, wird wahr. Die Szene, als sie ihrer gelähmten Mutter über die Wange streicht, ihre Beine berührt und sie daraufhin wieder gehen kann, macht unmissverständlich klar, daß Thelma verstanden hat. Und so zieht sie, sich ihrer selbst und ihrer Kräfte bewußt, in die weite Welt hinaus. Bleibt nur zu hoffen, dass Proffessor Xavier sie rechtzeitig findet und zu den X-Men holt. Ansonsten wäre die Welt Thelma hilflos ausgeliefert. Was für eine Horror-Vorstellung, mit der wir am Ende allein gelassen werden.
Sehr starkes Arthouse Kino. Ein Film, dessen ganze Wucht sich fühestens beim zweiten Hinsehen vollends entfaltet. Sehr gute visuelle Effekte mit Hitchcock (Die Vögel) und Friedkin (Der Exzorzist) Anleihen, die bei näherer Betrachtung durchaus verstörend und beängstigend sind. Zudem durchweg starke schauspielerische Lesitungen und eine Handlung, die dem Zuschauer unendlich viel Raum für Interpretationen bietet. Ich denke, am Ende haben alle Zuschauer zwar das Gleiche gesehen aber jeder wird in der Rückbetrachtung etwas ganz Anderes über Thelma erzählen. Das ist schon Arthouse-Kino der allerbesten Sorte. Beeindruckend.