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    Thelma
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Thelma
    Von Thomas Vorwerk

    Thelma“ beginnt wie eine düstere Variante des Märchens von „Schneewittchen“: Hier soll nicht ein Jäger eine Prinzessin töten, sondern ein Vater geht mit seiner sechsjährigen Tochter in den verschneiten Wald, legt erst aufs Wild an und richtet dann das Gewehr auf das Mädchen. Welcher Beweggrund ihn dazu treibt und welches Gefühl ihn schließlich davon abhält, abzudrücken, bleibt zunächst ungeklärt, doch dieser Prolog prägt die folgende Geschichte. Die womöglich traumatische Vergangenheit ist immer Bestandteil dieser metaphorischen Coming-of-Age-Erzählung mit übernatürlichen Elementen. Der norwegische Regisseur Joachim Trier kehrt nach „Louder Than Bombs“, seinem Ausflug ins englischsprachige Starkino (mit Isabelle Huppert, Gabriel Byrne und Jesse Eisenberg), zurück in seine nordische Heimat und lässt einen echten Knaller folgen, emotional wie inszenatorisch.

    Thelma (Eili Harboe, die Jeanne D'Arc in „Doktor Proktors Zeitbadewanne“) ist in einem kleinstädtischen, streng christlichen Elternhaus aufgewachsen und findet nun als Studentin in Oslo schlecht Anschluss. Ihre im Rollstuhl sitzende Mutter Unni (Ellen Dorrit Petersen, „Shelley“) und der strenge, aber freundliche Vater Trond (Henrik Rafaelsen, „Welcome to Norway“) wollen ihr helfen und über jede von Thelmas Aktivitäten Bescheid wissen, aber diese elterliche Kontrolle gefällt der jungen Frau nicht. Es ist zu spüren, dass ein Ereignis aus der Vergangenheit das familiäre Binnenverhältnis belastet. Und als Thelma eines Tages in der Bibliothek sitzt, knallt erst ein schwarzer Vogel von außen in die Fensterscheibe und fast gleichzeitig erleidet die junge Frau einen heftigen, offenbar epileptischen Anfall. Schließlich erschüttert auch eine Freundschaft Thelma, denn sie fühlt sich bald stärker zu Anja (Tanya Wilkins) hingezogen, als es ihre christliche Erziehung zulassen würde…

    Ein deutliches Vorbild der Geschichte scheint Stephen Kings „Carrie“ zu sein, die beiden Verfilmungen genauso wie das Buch: Die ersten Schritte ins Erwachsenwerden, eine seltsame, gleichsam übernatürliche Kraft und die unterschwellige Bedrohung durch das streng religiöse Elternhaus kennt man von dort. Joachim Trier interessiert sich dabei kaum für Spezialeffekte, sondern vor allem für die Verwirrung seiner Titelfigur, die auch eine Mutantin aus dem „X-Men“-Universum sein könnte. Während ihre Eltern durch Thelmas Andersartigkeit und die mögliche Gefahr, die von ihren Kräften ausgeht, eher dazu neigen, sie unter Kontrolle bekommen zu wollen, steht man als Zuschauer ganz auf der Seite der jungen Frau - selbst wenn sich bei einem Opernbesuch mal die Deckenverankerung zu bewegen beginnt und ein Massaker wie bei Carries Schulball nicht ausgeschlossen wirkt.

    Der zentrale Verrat an Carrie, die Sache mit dem Eimer voll Schweineblut, findet sich in „Thelma“ mit etwas Interpretationslust zwar auch wieder, doch hier ist es eher ein kleiner Scherz unter Beinahe-Erwachsenen (Thelmas erster Joint), der aus dem Ruder läuft - aber innerhalb der psychologisch fundierten Entwicklung der Geschichte ebenso wichtig erscheint - nur halt ohne das Blutvergießen. Was aus „Thelma“ ein so intensives wie befriedigendes Filmerlebnis macht, ist weniger die Handlung an sich, sondern es sind die tollen, oft metaphorischen (Sprach-)Bilder, die Trier und sein Co-Autor Eskil Vogt dafür finden. Da ist etwa die (nur erzählte) Geschichte davon, wie Trond seiner Tochter erklärt, wie diese sich die Hölle vorstellen muss. Oder der Anfall im Schwimmbad, bei dem die ganze Welt auf den Kopf gestellt scheint und Thelma gegen den Fußboden des Beckens schlägt, an dem sich aus unerfindlichen Gründchen Luftbläschen anzusammeln scheinen. Zu vielen dieser Momente findet man anderswo Spiegelszenen und wie die „Kreuzigung“ in den „Carrie“-Verfilmungen sind nicht wenige biblischen Ursprungs.

    Der Film ist auch deutlich feministisch unterfüttert und die Geschichte Thelmas kann spielend leicht als ständiger Kampf gegen das Patriarchat gelesen werden (der Vater, der Arzt, der Gott, die phallische Schlange stehen dafür), zugleich bleibt das Ganze aber so ambivalent, dass man sich jederzeit aus der Identifikation mit der Hauptfigur lösen kann - und aus einer anderen Perspektive wirkt so manche schockierende Handlung fast nachvollziehbar („Du wirst es dir nie verzeihen können, aber hier geht es um etwas Größeres als uns“).

    Es ist bemerkenswert, wie Trier das stringente Vorantreiben der Handlung und das geschickte Steigern einer eher äußerlichen „realistischen“ Spannung mit den metaphorischen Momenten des Films unter einen Hut bringt. Dieser delikate Balance-Akt gelingt selten so perfekt wie hier: Ein gut durchdachtes Drehbuch, gespielt von einer exzellenten Darstellerriege, die für die emotionale Unterfütterung sorgt – und zwischendurch viele große Kino-Momente zum Staunen.

    Fazit: Junge Liebe und Rebellion gegen die Eltern, Superkräfte und Momente des Horrors: Joachim Triers „Thelma“ ist ein superbes übernatürlich angehauchtes Coming-of-Age-Drama und noch viel mehr.

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