Es ist noch gar nicht so lange her, da waren gefolterte Frauen in düsteren Kellerverließen der letzte Schrei im Horrorgenre. Folterpornos von Eli Roths geradlinigem „Hostel“ bis hin zu Pascal Laugiers kunstvollem „Martyrs“ markierten in den 2000ern eine neue Härte im Horrorkino. Damit schlossen die Macher direkt an die übersteigerte Brutalität von Filmen der frühen 1980er wie die des italienischen Godfathers of Gore Lucio Fulci („Der New York Ripper“) an. Weil dieser harte Realismus auf Dauer jedoch nur schwer erträglich ist, wundert es nicht, dass das Pendel mittlerweile wieder in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen ist: Statt bitterer Härte sieht man immer häufiger sanften Grusel und statt eines perfiden Realismus dunkel romantische Geistergeschichten wie Guillermo del Toros „Crimson Peak“. Ein atmosphärischer Gothik-Grusel und eine mögliche Geistergeschichte sind auch wichtige Elemente in A. D. Calvos „Sweet, Sweet Lonely Girl“. Trotzdem entpuppt sich dieser ruhige Coming-of-Age-Horrorfilm mit der Zeit als überraschend originell.
Zu Beginn der 1980er Jahre werden die Zeiten härter: Ronald Reagan ist der 40. Präsident der USA und das Teenagermädchen Adele (Erin Wilhelmi aus „Vielleicht lieber morgen“) wird von ihrer lieblosen Mutter aus Geldmangel zur wohlhabenden Tante Dora (Susan Kellermann) abgeschoben. Genauer gesagt wird Adele mit der bezahlten Betreuung der seltsamen Alten beauftragt. Dabei bekommt Adele ihre mysteriöse Tante nie direkt zu Gesicht, weil diese ihr Zimmer nicht verlässt. Die Kommunikation läuft vornehmlich über Zettel, die Tante Dora unter ihrer Türschwelle hindurchschiebt. Neben Erledigungslisten bestehen diese schriftlichen Botschaften insbesondere aus zahlreichen Verboten. Um der bedrückenden Atmosphäre in Tante Doras Haus zu entfliehen, geht Adele in den kleinen Ort. Doch unter den dortigen abweisenden Bewohnern findet sie zunächst keinen Anschluss. Ihr Blatt beginnt sich erst zu wenden, als sie die ausgesprochen freie und verführerische Beth (Quinn Shephard aus der TV-Serie „Hostages“) kennenlernt. Beth stiftet Adele aber auch zu immer mehr Regelüberschreitungen an. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis der Konflikt mit der gestrengen Tante eskaliert...
Schon wenn Adele das erste Mal vor dem düsteren Haus ihrer Tante steht, fühlt man sich sofort an Klassiker des übersinnlichen Grusels wie William Friedkins „Der Exorzist“ oder Ti Wests Slowburn-Retro-Geheimtipp „The House Of The Devil“ erinnert. Diese morbide und unheilvolle Atmosphäre setzt sich im staubigen Inneren des alten Gebäudes fort, das mit der sich in ihrem Zimmer versteckenden Tante wie verlassen wirkt. Nur eine völlig zerzauste herrenlose Katze streift vor dem Haus herum. Und von der Tante sieht Adele lange nicht mehr als nur die Hände, die schnell das vor die Tür gestellte Essentablett in ihr Zimmer hineinziehen, um anschließend sofort wieder die Tür hinter sich zu schließen. Kein Wunder, dass diese Tante Adele schon bald wie ein Geist erscheint. „Sweet, Sweet Lonely Girl“ ist über weite Strecken ein rein psychologischer Horrorfilm, der die inneren Kämpfe der schüchternen und einsamen Adele zeigt. Erst als sie in der frechen Beth ihr Gegenstück findet, wird auch Adele allmählich freier und verwegener.
Die von Beginn an immer auch erotisch aufgeladenen Begegnungen zwischen den beiden so ungleichen jungen Frauen sind dabei gleichermaßen von neugewonnener Freiheit und einer stets um die nächste Ecke lauernden Gefahr geprägt. Die Beziehung zwischen der blonden grauen Maus Adele und dem brünetten Teenie-Vamp Beth erinnert nicht von ungefähr an die entsprechende Konstellation in David Lynchs Psycho-Noir-Meisterwerk „Mulholland Drive“. Auch in „Sweet, Sweet Lonely Girl“ beginnen die Rollen und die Realitäten irgendwann so wild durcheinanderzuwirbeln, dass einem trotz des betont langsamen Erzähltempos regelrecht schwindelig werden kann. Zum Glück zaubert der argentinische Filmemacher A. D. Calvo - der auch das Drehbuch zum Film verfasst hat – zum Schluss nicht einfach irgendein weißes Kaninchen in Form eines völlig willkürlichen Twists aus dem Zylinder. „Sweet, Sweet Lonely Girl“ wirkt zwar zwischenzeitlich komplizierter als er es eigentlich ist, besinnt sich in der surrealen finalen Viertelstunde aber wieder ganz auf seine zentralen Figuren statt auf irgendwelche Ploterklärungen. Ein leiser Film, der eine große Wirkung entfaltet.
Fazit: „Sweet, Sweet Lonely Girl“ ist ein langsamer psychologischer Horrorfilm mit gelungenen Gothic-Horror-Elementen, der mit seiner dichten Atmosphäre und einer sanften Coming-of-Age-Geschichte besticht.