Anspielungen auf den rebellierenden Bordcomputer „HAL 9000“ aus dem Raumschiff Discovery in Stanley Kubricks wegweisendem Science-Fiction-Meisterwerk „2001: Odyssee im Weltraum“ gab es in der jüngeren Filmgeschichte zuhauf: In Roland Emmerichs „Independence Day“ oder Pixars Animationsfilm „WALL·E“ beispielsweise finden sich ebenso augenzwinkernde Verweise wie in der „Simpsons“-Episode „Hex und the City“, in der ein sprechender Computer mit der markanten roten Lampe (und der Stimme von Gaststar Pierce Brosnan) die Kontrolle über das Haus der gelben Familie übernimmt. Filmemacher Niki Stein („Rommel“) geht nun sogar noch einen Schritt weiter: Sein futuristisch angehauchter „Tatort: HAL“ enthält mehr als nur eine Anspielung auf Kubricks Klassiker, zugleich ist sein Krimi mit seiner komplexen Geschichte und seinen zahlreichen High-Tech-Elementen in mehrfacher Hinsicht eine der modernsten „Tatort“-Ausgaben der vergangenen Jahre. Wer Spaß an wendungsreichen Science-Fiction-Thrillern hat, kommt bei diesem mutigen Fernsehfilm voll auf seine Kosten.
Die Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) werden ans Neckarufer gerufen: Ein kleines Mädchen hat im Fluss eine Wasserleiche gefunden. Bei der Toten handelt es sich um Schauspielschülerin Elena Stemmle (Sophie Pfennigstorf), die lukrativen Nebenjobs beim Online-Escortservice „Love Adventure“ und bei der Softwarefirma Bluesky nachging. Stemmle war bei Bluesky Probandin für das gleichnamige Social-Analysis-Programm, dem ganzen Stolz von Entwickler David Bogmann (Ken Duken) und Geschäftsführerin Mea Welsch (Karoline Eichhorn). Dank der gesammelten „Big Data“ erstellt die Software ausführliche Profile aller erfassten Personen, die sich für verschiedenste Zwecke ausschlachten lassen. Auch das LKA scheint daran interessiert. Lannert und Bootz, die bei ihren Ermittlungen von Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera), Gerichtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) und Kriminaltechnikerin Nika Banovic (Mimi Fiedler) unterstützt werden, stoßen schon bald auf ein Snuff-Video, das Stemmles mutmaßlichen Tod zeigt und von Bogmanns IP-Adresse aus hochgeladen wurde. Aber ist er auch der Täter? Oder wurden die Daten manipuliert – möglicherweise gar vom System selbst?
Mit besten Absichten programmierte Computer geraten außer Kontrolle und werden zur Bedrohung für ihre Schöpfer: Vom Kampf zwischen Mensch und Maschine erzählen neben Kubricks eingangs erwähntem Sci-Fi-Meilenstein „2001: Odyssee im Weltraum“ auch Blockbuster wie „I, Robot“. Nun werden also auch die Stuttgarter „Tatort“-Ermittler in bester „Terminator“-Manier vom Bluesky-System gescannt und so zu gläsernen Persönlichkeiten. Filmemacher Niki Stein, der bereits seinen 13. „Tatort“ inszeniert, greift auch die zentrale Idee aus Steven Spielbergs „Minority Report“ auf: Ähnlich wie dort kann das selbstlernende Programm hier Verbrechen im Voraus prognostizieren. Aktueller kann ein „Tatort“ kaum sein – man denke nur an die kontroverse Debatte um die Vorratsdatenspeicherung, die Überwachung öffentlicher Plätze oder das Abhören von Mobiltelefonen. Stein legt den Finger auf den Puls der Zeit, denkt den Status quo aber einen Schritt weiter und taucht seinen Film dazu in futuristische Bilder: Die sterilen Büroräume der IT-Firma – konsequent in den Farben Weiß, Rot und Blau gehalten – beherbergen High-Tech vom Feinsten und werden bis in den letzten Winkel vom System überwacht: Big Brother is Watching You!
Regisseur und Drehbuchautor Stein teilt die Geschichte mit den kafkaesken Zwischentiteln „Die Verschollene“, „Vor dem Gesetz“, „Der Prozess“ und „Die Verwandlung“ in vier Abschnitte und greift in seinem reizvollen Überwachungsszenario zahlreiche Motive aus „2001“ auf: Kenner des Kubrick-Klassikers werden im einleitenden Zeitlupen-Astwurf des kleinen Mädchens den Knochenwurf des Menschenaffen wiedererkennen, mit dem in „2001“ von der Frühgeschichte ins Raumfahrtzeitalter gewechselt wird (hier wird aus dem Ast eine zersplitternde Tontaube). Gleich mehrfach erklingt im „Tatort: HAL“ zudem die „Hänschen klein“-Melodie, die der schwächelnde „HAL 9000“ in der deutschen Fassung des Kubrick-Films zum Besten gibt, bevor ihn Astronaut Dave abschaltet. Die Figuren in Steins Film – insbesondere den von Ken Duken („Connie & Co“) verkörperten Typen des paranoiden Wissenschaftlers, auf dessen Warnungen niemand hören will – kennen wir aus Hollywood zwar zur Genüge, doch tut das der Unterhaltung keinen Abbruch. Erst als sich Bogmann wie von Sinnen durchs Rechenzentrum ballert und ein Sondereinsatzkommando auf den Plan ruft, überspannen die Filmemacher den Bogen – nutzen die Sequenz aber zugleich für einen pfiffigen Twist, der die Bedrohung durch Bluesky dramatisch auf den Punkt bringt.
Dass der 991. „Tatort“ trotz der feinen Anspielungen und der handwerklich gelungenen Umsetzung unter dem Strich nicht ganz an den ebenfalls mit vielen Verweisen gespickten Berliner „Tatort: Hitchcock und Frau Wernicke“ oder den Wiesbadener Shakespeare-Italo-Western „Tatort: Im Schmerz geboren“ heranreicht, liegt neben den altbekannten Figurenmustern auch an einigen überflüssigen Nebenschauplätzen: Staatsanwältin Alvarez scheint sich trotz einiger kecker Seitenhiebe auf Google & Co. vor allem für ihre Tangostunden mit Referendar Elias zu interessieren, und auch Kriminaltechnikerin Banovic sammelt in diesem „Tatort“ wenig Sympathiepunkte. Lannert und Bootz hingegen navigieren die weniger technikaffinen Zuschauer souverän durch das digitale Neuland und erklären Anglizismen und Fachbegriffe gekonnt im Vorbeigehen, statt den Erzählfluss mit pädagogisch wertvollen Erläuterungen zu stören. Bei der etwas hastig vorgetragenen, aber cleveren Auflösung muss der Zuschauer dann ein Auge zudrücken: Einmal mehr führt im „Tatort“ ein Smartphone-Video auf die Spur des Täters, wobei der Hergang allerdings ein bisschen ausführlicher dokumentiert wird, als es der Glaubwürdigkeit guttut.
Fazit: Niki Steins „Tatort: HAL“ ist eher ein Science-Fiction-Thriller als ein klassischer Krimi, punktet aber mit einem bedrohlichen Überwachungsszenario und zahlreichen cleveren Verweisen auf Hollywood.