Schon bei seinem zweiten Auftritt schrieb der Berliner „Tatort“-Kommissar Robert Karow (Mark Waschke) deutsche Fernsehgeschichte: In Dror Zahavis „Tatort: Ätzend“ nahm der Ermittler nachts einen Mann mit in seine Wohnung, war am nächsten Morgen halbnackt auf seinem Balkon zu sehen und galt seitdem als erster schwuler Kommissar in der Geschichte der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Doch Hauptdarsteller Mark Waschke („Fenster zum Sommer“) kam ein offizielles „Outing“ seiner Figur ebenso wenig über die Lippen wie dem federführenden Sender rbb, was offenbar einen guten Grund hatte: In Torsten C. Fischers „Tatort: Wir – Ihr – Sie“ erleben wir Karow nun zwar beim hemmungslosen Sex mit einem Mann, doch kommt auch eine Affäre mit der Frau eines früheren Weggefährten ans Licht. Ist der Kommissar womöglich bisexuell? Karows Privatleben birgt jedenfalls weitere Überraschungen und nimmt auch in seinem dritten „Tatort“ wieder viel Raum ein. Die Spannung des Krimis schmälert das kaum: Der letzte „Tatort“ vor der Sommerpause 2016 ist der bisher stärkste des neuen Ermittlerduos aus der Hauptstadt.
Im Parkhaus der Arkaden am Potsdamer Platz kommt eine Frau grausam zu Tode: Katharina Werner wird erst von einem Auto angefahren und anschließend überrollt, als sie verletzt auf der Fahrbahn liegt. Die Überwachungskamera zeigt einen Jeep mit getönten Scheiben, doch Fahrer und Tathergang sind nicht zu erkennen. Wer saß am Steuer? Die erste Spur führt die Berliner Hauptkommissare Robert Karow (Mark Waschke) und Nina Rubin (Meret Becker) zu Birgit Hahne (Valerie Koch), der Nachbarin des Opfers: Sie war die Halterin des Wagens und hatte ein Verhältnis mit Carsten Werner (Steffen Münster), dem Mann der Toten. Ins Visier der Ermittler geraten auch drei minderjährige Mädchen: Die egozentrische Louisa Müller (Cosima Henman), die introvertierte Charlotte Buske (Valeria Eisenbart) und die aufmüpfige Paula Zink (Emma Drogunova) haben sich zur Tatzeit im Shopping-Center aufgehalten und sind Mitschülerinnen von Ben Werner (Béla Lenz), dem Sohn der Ermordeten. Haben Sie den Jeep womöglich gekapert, um darin Party zu machen? Hauptkommissar Karow hat derweil noch andere Sorgen: Er kontaktiert Christine Maihack (Ursina Lardi), die Witwe seines erschossenen Ex-Partners, um endlich dessen Todesumstände zu klären...
Wer die letzten beiden Berliner „Tatort“-Folgen verpasst hat oder sich nur ungenau erinnert, kann dem dritten Hauptstadt-Krimi trotzdem mühelos folgen: Ein einleitender Rückblick fasst alles zusammen, was für den weiteren Verlauf der folgenübergreifend erzählten Nebenhandlung noch von Bedeutung ist. Der Cliffhanger aus dem „Tatort: Ätzend“ wird einleitend aufgelöst: Karow erscheint trotz seiner Verhaftung wieder im Präsidium, denn eine Kamera in seiner Wohnung hat nicht nur den explizitesten Schwulen-Sex in der über 40-jährigen Geschichte der Krimireihe aufgezeichnet, sondern noch weitere Details, die ihn von allen Verdachtsmomenten freisprechen. Das heißt aber nicht, dass der Handlungsstrang um den Tod seines Ex-Kollegen Gregor Maihack damit abgeschlossen ist: Die Ermittlungen im Mordfall werden regelmäßig für Karows private Nachforschungen unterbrochen, und auch für Rubins zerrüttetes Familienleben nehmen sich die Filmemacher viel Zeit. Besonders im Mittelteil gerät die Tote im Parkhaus dadurch etwas aus dem Blickfeld – was aber zu verschmerzen ist, denn die üblichen „Hatte Ihre Frau Feinde?“-Dialoge sind bis dahin längst abgefrühstückt und die Handlung entwickelt sich in eine andere Richtung.
Drehbuchautorin Dagmar Gabler („Songs of Love and Hate“) setzt nur einleitend auf die typischen Versatzstücke eines klassischen Whodunit und erzählt stattdessen eine Geschichte, die dem vielgelobten Kölner „Tatort: Ohnmacht“ oder dem starken Berliner „Tatort: Gegen den Kopf“ ähnelt: Schnell ist klar, dass die drei Jugendlichen die Frau mit dem Jeep überfahren haben müssen – aber wo liegt das Motiv, wer saß am Steuer und wie kann die Täterin überführt werden? Die Antworten auf diese Fragen bringen Rubin an ihre Grenzen: Während Karow die Provokationen der rotzfrechen Schülerinnen mit bemerkenswerter Gelassenheit kontert, lässt sich die Kommissarin und zweifache Mutter zu einer Handgreiflichkeit hinreißen. Nicht nur die Ermittler stehen den Spielregeln des deutschen Rechtsstaats und der Gleichgültigkeit der Tatverdächtigen mitunter machtlos gegenüber: Rechtsanwalt Thorwald Müller (Thomas Heinze, auch in den letzten beiden Bremer „Tatort“-Folgen in einer Nebenrolle zu sehen) navigiert die verwöhnte Louisa zwar trotz erdrückender Indizienlast aus jeder brenzligen Situation, muss sich aber bald eingestehen, dass er den Draht zu seiner smartphonesüchtigen Tochter schon lange verloren hat.
War der „Tatort: Das Muli“, mit dem das Duo Waschke und Becker seinen Einstand gab, noch eine düstere Studie des Berliner Drogenmilieus, arbeiten die Filmemacher diesmal gekonnt die soziale Isolation und die erschreckende Gleichgültigkeit der jungen Frauen heraus, die in den bunten Scheinwelten von Facebook, Instagram & Co. zu Hause sind. Dass das respekt- und empathielose Auftreten der drei Freundinnen so glaubhaft und echt rüberkommt, ist auch den starken Jungdarstellerinnen – allen voran der glänzend aufgelegten Emma Drogunova („... und dann noch Paula“) – zu verdanken: Nie wirken ihre Fäkalsprache und das anstrengende Aufbegehren gegen die elterliche und polizeiliche Autorität gekünstelt. Erst am Ende, als das verschworene Trio auseinanderbricht und man sich gegenseitig aus den Freundeslisten löscht, tragen die Filmemacher etwas zu dick auf. Dennoch ist der 989. „Tatort“ ein guter, ungewohnt disharmonischer Krimi, in dem es am Ende nur Verlierer gibt: Die Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen, die Mädchen, deren Realität sich ins Netz verlagert hat, und auch die Kommissare, deren Vertrauen zueinander spätestens in der Schlussminute noch einmal erschüttert wird.
Fazit: Torsten C. Fischers „Tatort: Wir – Ihr – Sie“ ist ein überzeugender Krimi aus Berlin und ein gelungener Abschluss für das erste „Tatort“-Halbjahr 2016.